Eine bewegende Biographie über Jean Améry
Die Rede ist von Jean Améry: Auf dem mit Efeu überwachsenen Grabstein: Der Name; die Geburts- und Sterbedaten; seine Auschwitznummer 172364. Dieses Brandmal am linken Unterarm, schrieb er, lese sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gebe doch gründlicher Auskunft, Sie sei auch verbindlicher - als Grundformel der jüdischen Existenz; er zeigte es mir, als ich ihn für die "Nürnberger Gespräche" Ende der 60er-Jahre gewinnen konnte. Er war dadurch für immer versehrt.
Die Deutschen hatten Améry nach der Besetzung Belgiens, wohin er emigriert war, als Mitglied einer Widerstandsorganisation schrecklich gefoltert. "Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust, gegen den es keine Wehr geben kann …, endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken", hieß es später in seinem Essay "Die Tortur" (1965). Mitte Januar 1944 wurde er nach Auschwitz abtransportiert, wo er als Schreiber in einem Werk der I.G. Farben überleben konnte. Anfang April 1945 kam er nach Bergen-Belsen und wurde zwei Wochen später durch die alliierten Truppen befreit. "Das Überstehen war ein Widersinn."
Aus solchem Leiden erwuchs diesem Schriftsteller, der zu den bedeutendsten deutschsprachigen Publizisten nach 1945 zählt, die Kraft, in Aufsätzen, Vorträgen, dann in seinem Buch "Jenseits von Schuld und Sühne" (1966) unter Zurücknahme des eigenen Erlebens das Dritte Reich scharfsichtig zu analysieren, einen Staat, für den "die Tortur kein Akzidens, sondern seine Essenz war".
Nun legt Irene Heidelberger-Leonard, geboren 1944 in der französischen Emigration, Professorin an der Université Libre de Bruxelles, eine Lebensbeschreibung Amérys vor, die durch genaue Recherchen, die nicht einfach waren ("ein Leben voller Lücken"), und großes Einfühlungsvermögen besticht. Vor allem handelt es sich um eine Biographie, welche der Leserschaft die Schriften dieses luziden Denkers nahe bringt. Die Verfasserin ist auch die Herausgeberin seiner seit 2003 erscheinenden "Gesammelten Werke".
Geboren wurde Améry - er legte sich diesen ana-grammatischen nom de plume erst 1955 zu - als Hans Maier 1912 in Wien. Im Klassenkatalog der Volksschule von Bad Ischl, wohin die Mutter nach dem Tode des Vaters im Ersten Weltkrieg gezogen war und bei mäßigem Erfolg eine Pension mit Gastwirtschaft betrieb, erscheint er als Hans Mayer, ein Jahr später als Johann Mayer. Als er wieder nach Wien kommt, wo er das Gymnasium ohne Abschluss besucht, eine Buchhandelslehre absolviert und erste schriftstellerische Versuche unternimmt, zeichnet er als Hanns Mayer.
Nomen et omen insofern, als ihm, dem Juden - 1933 verließ er die jüdische Gemeinde, in die er demonstrativ 1937 wieder eintrat -, über lange Zeit die Identität verweigert wurde. Selbst nach 1945 hatte der Vertriebene, Gejagte und Gefolterte zunächst Schwierigkeiten, "sich behördlich versichern zu lassen, daß es ihn überhaupt noch gibt. Sein einziger Ausweis ist die ?registration card' aus Bergen-Belsen".
Nach Kriegsende nahm Améry seine schriftstellerische Tätigkeit wieder auf, was zunächst sehr entbehrungsreich verlief - drei Artikel pro Woche brauchte er als Existenzminimum. "Was mich angeht", so schreibt er kurz nach dem 45. Geburtstag seinem lebenslangen besten Freund Ernst Mayer, "so bin ich auf Moll gestimmt. Die Lebensbilanz zeigt wenig Gewinn. Was kann noch kommen? Nichts. Man wird wursteln, geistig, seelisch, materiell." Sein "verpatztes Schicksal" führt er zurück auf seine "psychische und moralische Unmöglichkeit", für Deutschland zu arbeiten.
Das änderte sich, als der Redakteur Helmut Hei-ßenbüttel ihn 1964 für den "Radio-Essay" des Süd-deutschen Rundfunks entdeckte und gewann. Ende der 60er-Jahre ist er ein "Medienliebling"; allein im Laufe der intensiven Zusammenarbeit mit Hans
Paeschke, dem Herausgeber der renommierten Zeit-schrift "Merkur" (1965 - 1978), entstehen rund 60 Beiträge. Seine Bücher, darunter "Über das Alter" (1968) finden beste Resonanz und werden von der Kritik mit großem Lob bedacht.
Dem Durchbruch folgt jedoch der Zusammenbruch: Améry erleidet einen Herzinfarkt. Nach dem "Hinuntersteigen in die Abgründe" des Alterns, nun die "ausgewachsene Depression": Lebens- und Todesangst vereinigen sich zu einem dumpfen Gefühl des Überdrusses und der Kampfesmüdigkeit. Er rafft sich jedoch wieder auf, arbeitet unermüdlich. Neue Erfolge, Ehrungen, Preise folgen. Aber die schwere Krise schwelt weiter. Er unternimmt einen Selbstmordversuch; 1976 liefert ein Buch der misslungenen Praxis die Theorie nach: "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod"; in sechs Wochen werden 9.000 Exemplare verkauft.
Bei jeder Gelegenheit beklagt Améry seine schwer geschädigte Gesundheit, vor allem das verkalkte Herz. "Er müsse ständig um die Funktionsfähigkeit des Kadavers bangen." Die seit längerem andauernde Liebesbeziehung zu der Amerikanerin Mary Cox Kitaj, die er ursprünglich als "glückliche Leidenschaft" empfand, versetzt ihn in schwere moralische Skrupel seiner Frau Maria gegenüber, die unermüdlich ihn umsorgende, mit ihm selbstlos zusammenarbeitende Gefährtin seit den Tagen der Not. Die Kritik würdigt seine belletristischen Arbeiten ("Lefeu oder der Abbruch", 1974; "Charles Bovary. Landarzt", 1978) nicht so, wie er es erwartet und erhofft hatte.
Er wollte immer vor allem als Dichter anerkannt werden. All dies lässt ihn endgültig verzweifeln. Minutiös bereitet er in Salzburg den zweiten, nun gelingenden Selbstmordversuch vor. In einem Brief entschuldigt er sich bei der Hotelleitung wegen wahrscheinlicher Ärgerlichkeiten. Er erklärt den Polizeibehörden, dass er sich freiwillig, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, den Tod gebe. Er schreibt an seinen Verleger, an seinen treuen Lektor, an seine Frau ("Geliebtes Herzilili, allergeliebtes, vor dem ich sterbend in Schuld knie … Ich bin auf dem Weg ins Freie. Es ist nicht leicht, aber dennoch eine Erlösung").
Er wurde zur Frankfurter Buchmesse erwartet. "Als die Nachricht aus Salzburg in Frankfurt einschlug, hielt die Frankfurter Bücherwelt eine Sekunde lang den Atem an. Kein Nachruf, der die moralische Instanz Jean Améry als Essayisten nicht in den Himmel hebt. Ironie der Ironie. Allein die BILD-Zeitung verleiht ihm das Epitaph, das er so ersehnt hatte: "?Selbstmorddichter Améry lag tot im Hotel - vergiftet!' (19. 10. 78)"
Irene Heidelberger-Leonard
Jean Améry. Revolte in der Resignation. Biographie.
Verlag Klett-Cotta. Stuttgart 2004; 408 S., 24,- Euro
Hermann Glaser war über viele Jahre inspirierender Kulturreferent der Stadt Nürnberg; seitdem ist er als Publizist tätig.