Internationaler Workshop in Straßburg
Die Europawahl wirft ihre Schatten voraus. Während die Parteien ihre Kandidatennominierungen abschließen und allmählich die Riege der Spin-Doktoren und Campaigner in den Vordergrund tritt, gehen auch in den Redaktionen der Republik die Vorbereitungen für aufwändige "Europa-Specials" in die heiße Phase - schließlich stehen mit dem EU-Beitritt von insgesamt zehn neuen Ländern zum 1. Mai und der Wahl am 13. Juni gleich zwei Großereignisse für Politik und Medien vor der Tür. Den zu erwartenden Medienwahlkampf um Europa vor Augen, haben sich das Gießener Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI), die Bundeszentrale für politische Bildung und der europäische Kultursender ARTE eine besondere Strategie zurecht gelegt: Gemeinsam entwickeln sie die Online-Plattform "www.europathemen.de", die an das erfolgreiche Internet-Angebot "www.wahlthemen.de" aus dem Bundestagswahljahr 2002 anknüpft.
Dem Start der Website im März wurde ein Offline-Workshop mit namhaften Europa-Experten vorgeschaltet. Während sich andernorts Rosenmontagszüge durch die Karnevalshochburgen wälzten, traf sich im neuen Straßburger Hauptquartier des Kultursenders ARTE eine internationale Runde aus Europapolitikern, Journalisten, Meinungs- und Medienforschern, um wesentliche Gegenstände des bevorstehenden Europawahlkampfs - eben die so genannten Europathemen - zu diskutieren. Die Leitüberlegung des ambitionierten Projektes knüpft an die Idee an, dass die europaweiten Wahlen im Juni eine hervorragende Folie für eine praxisorientierte Untersuchung zum Stand der europäischen Öffentlichkeit darstellen. In der sozialwissenschaftlichen Forschung existiert diese Sphäre transnationaler Kommunikation zumeist nur als Möglichkeitsraum, während empirische Untersuchungen noch stets von einer Dominanz nationaler Themenkonjunkturen und Medienstrukturen ausgehen. So ist die Diskussion um das Raumschiff Brüssel in Deutschland und in Frankreich zwar relevant, und auch im Beitrittsland Polen spielt diese Chiffre eine große Rolle - doch im nationalen Zusammenhang motiviert dieser Begriff völlig unterschiedliche Lesarten: während in Deutschland Bilder des hässlichen Zentralstaats samt diätengierigen Europapolitikern dominieren, erwarten Franzosen von Brüssel den Erhalt und die Stärkung kultureller europäischer Alleinstellungsmerkmale. In polnischen Kampagnen zum EU-Beitritt wurde die Bürokratie-Metropole dagegen als visuelle Vignette eines schier unerschöpflichen Arbeitsmarktes der Zukunft inszeniert.
Solchen europäischen Perspektivlagen widmete sich der Workshop, um daraus eine Themenmatrix abzuleiten, die durch die Online-Plattform "europathemen.de" im Vorfeld der Wahl genutzt werden kann. Überzeugungsarbeit, dass das Internet dafür genau das richtige Umfeld bereit stellt, war dabei kaum zu leisten - in unerwarteter Einigkeit versprachen sich Politiker, Journalisten, Wissenschaftler und Parteistrategen eine dynamische und informierte Online-Diskussion.
Daniel Cohn-Bendit, zurzeit Fraktionschef der Grünen, forderte die notwendige Emotionalität europäischer Politikthemen, um eine "kritische Masse interessierter Bürger" erreichen zu können. Aktuell sehe er eine solche Mischung im Umfeld des umstrittenen Türkei-Beitritts, der Migrationsproblematik und der gleich in mehreren Ländern schwelenden "Kopftuch-Debatte". Was in Deutschland und Frankreich für zahlreiche öffentliche Entrüstungsstürme gesorgt hat, löse etwa in Großbritannien nur mehr ein Kopfschütteln aus. Auch politikfernere Themenfelder eigneten sich laut Cohn-Bendit durchaus zur Adressierung grenzübergreifender, europäischer Problemlagen. So stelle etwa der Umgang mit den zahlreicher werdenden Dopingfällen im Hochleistungssport einen Anknüpfungspunkt zur Debatte im europäischen Maßstab dar - "Es muss nicht immer der Umweltschutz sein", so Cohn-Bendit, auch wenn die gerade gegründeten "Europäischen Grünen" dieses Thema natürlich in den Vordergrund gestellt haben.
Der französische Journalist Henri de Bresson ("Le Monde") stellte eher strukturelle Probleme der Europäischen Union in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. So habe die Debatte um die EU-Verfassung in der französischen Öffentlichkeit sehr wohl eine wichtige Rolle gespielt und sei keineswegs nur ein Expertenthema geblieben wie etwa in Deutschland. Der Pariser Politologe Alfred Grosser beklagte, dass die Verfassungsdebatte, die übrigens auch unter hoher Online-Beteiligung stattfand und fast unausgewertet blieb, von den Regierungen sträflich vernachlässigt worden sei - weder Chirac noch Schröder hätten die fällige "große Rede" dazu gehalten. Grosser erinnerte an den Satz des europäischen Gründervaters Jean Monnet, wonach nichts ohne Menschen geschaffen wird, aber nichts ohne Institutionen von Dauer sein könne.
Für seinen spanischen Kollegen Fernando Vallespín ist die Europawahl bereits jetzt in eine Abhängigkeit von den Nationalwahlen am 14. März geraten - ganz gleich, welche Themen eine europäische Agenda hervor bringe, im Falle Spaniens komme die Wahl zum Europaparlament nicht über den Status einer zeitnahen nationalen Korrekturmöglichkeit über die im März anstehende Entscheidung über die Aznar-Nachfolge hinaus.
Einblicke in aktuelle Befindlichkeiten in der Erweiterungszone gab der Warschauer Publizist Adam Krzeminski ("Polytika") - er zeichnete ein düsteres Bild von zwei sich allmählich entfremdenden Europa-Lagern in Polen. Während sich das kurz vor der Abwahl stehende politische Establishment EU-Mandate zum angenehmen Karriereausklang sichern möchte, formiere sich auf der anderen Seite eine wachsende Zahl aufgeschlossener, moderner, vorwiegend junger Europa-Befürworter. Ganz nebenbei stürze dieser Disput Polen in eine Diskussion über das nationale Selbstverständnis zwischen traditionsbewusster Agrarkultur und bildungsorientierter Wissensgesellschaft. Diese intensiv geführte Debatte um ein nationales Leitbild könne nicht folgenlos für die Diskussion europäischer Politik und die Rolle Polens im neuen Machtgefüge bleiben.
Die europäische Tour d'Horizon wurde gelegentlich unterbrochen durch Workshop-Leiter Claus Leggewie (ZMI), der die bewusst national gefärbten Beiträge mit den Leitfragen nach der genuin europäischen Dimension innerhalb der Themenvielfalt verknüpfte. Für eine empirische Erdung sorgten Beiträge aus der Meinungs- und Umfrageforschung. Andreas Wüst vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung verwies zunächst auf die Unsicherheit und Unkenntnis der europäischen Bürgerschaft: "Bei offenen Fragen nach einer europäischen Politik-Agenda erhalten wir nahezu keine sinnvollen Antworten. Erst wenn man den Befragten ein Themensortiment präsentiert, entsteht ein Feedback." Die dabei dominierenden Politikfelder können kaum überraschen - an der Spitze rangieren Arbeits- und Beschäftigungsfragen, danach folgen ungefähr gleich gewichtet "klassische" Politikbereiche wie Sicherheit, Migration, Gesundheit oder Umwelt.
Dieter Roth, Leiter der Mainzer Forschungsgruppe Wahlen, hob darüber hinaus die unterschiedliche Relevanz der Politikebenen für die Bürger hervor und leitete daraus eine vorsichtige Projektion der Wahlbeteiligung ab: "Die Zahl derjenigen, für die in Umfragen die Politikebene Europa sehr wichtig oder wichtig ist, ergibt in der Addition eine gute Annäherung an die spätere Wahlbeteiligung. In aktuellen Umfragen liegt diese Summe bei etwa 50 Prozent." Mit Blick auf den Wahlkampf machte Roth die - mit Ausnahme der Grünen - national organisierten Parteien als Hemmschuh für eine Akzeptanzsteigerung europäischer Themen aus. Eine genuin europäische Ausrichtung des Wahlkampfes würde dadurch verhindert, denn die Parteien sähen im Europawahlkampf stets nur eine zusätzliche Bühne für die Verhandlung nationaler politischer Auseinandersetzungen. Trotz dieser nüchternen Einschätzung befürwortete er aber Projekte wie "www.europathemen.de", denn unter jungen Leuten, die sich selbstverständlicher online politisch informieren und beteiligen, erfreut sich Europa hoher Beliebtheit und gilt auch als Mobilisierungsthema.
Andreas Helle (Mitglied im Planungsstab des SPD-Parteivorstandes) erläuterte strategische Zwänge des Wahlkampfs, aus seiner Perspektive sei die Europawahl eine lang gezogene Mid-Term-Election nach amerikanischem Muster. Insbesondere die Versuche der politischen Gegnerschaft, die Europawahl als Abmahnung für eine verfehlte nationale Politik nutzen, mache die Stärkung nationaler Themen zwingend erforderlich. Eine Rückstellung echter Europathemen in einem solcherart über mehrere Jahre anzulegenden wahltaktischen Strategieszenario sei der politischen Gesamtsituation geschuldet.
Die überaus lebhafte Diskussion förderte somit zahlreiche Impulse für den Aufbau einer Themenmatrix im europäischen Maßstab zutage, einige Schneisen schlagen dabei die Unterscheidungen in emotionale Themenstränge (Kopftuch-Debatte), Strukturthemen (EU-Verfassung, Mehrebenensystem) sowie die Sortierung entlang einzelner Politikfelder (Ökonomie, Landwirtschaft, Bildung). Herausgearbeitet wurden Themen, die im Bewusstsein der europäischen Wähler nur noch gesamteuropäisch lösbar sind (innere und äußere Sicherheit, Agrarreform und Verbraucherschutz) und Themen, bei denen man sich - das beste Beispiel war PISA - nationale Alleingänge nicht mehr erlauben kann und "beste Praktiken" in anderen europäischen Ländern zur Kenntnis nehmen muss. Mit der Identifikation tatsächlich grenzübergreifender Themenlinien ist nur die erste Hürde bei der Entwicklung der Online-Plattform europathemen.de genommen.
Wie differenziert sich die Diskussion mit einer interessierten Online-Bürgerschaft gestalten kann, zeigte die listige Frage mit der Adam Krzeminski seine Überlegungen abrundete: "Die Montanindustrie begründete den Zusammenhalt der Europäischen Gemeinschaft in den 50er-Jahren - was ist das Äquivalent dafür in der heutigen Situation?" Die Antworten benannten den Bildungsbereich und Medienregulierung, ebenso wie Verkehrs- und Sicherheitspolitik. Auf der Baustelle Europa gibt es also noch viel zu tun. Das Hauptthema sollte nach Ansicht von Alfred Grosser sein: "Seht, was Ihr an der Union schon habt, wieviel wir schon gemeinsam bestimmen!"