Akademischer Eisbrecher auf der Donau
Wuchtige Säulenportale im spätstalinistischen Baustil rahmen auf beiden Flussufern die Einfahrt zur einzigen Donaubrücke zwischen Rumänien und Bulgarien. Wer über das 1954 eingeweihte Bauwerk fahren will, braucht Zeit, Geduld und Geld: Bevor die exorbitanten Brückengebühren einkassiert werden, müssen die Autofahrer stundenlang warten.
Wie mühselig die Grenzüberschreitung 13 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Alltagsleben vonstatten geht, haben die Austauschstudentinnen Silvia Iuga (27) aus Rumänien und Tyurkyan Tomasheva (23) aus Bulgarien am eigenen Leib erfahren. Während sich Silvia Iuga in der nordbulgarischen Grenzstadt Russe vor einem Jahr in den zweijährigen Masterkurs Europastudien eingeschrieben hat, studiert Tyurkyan Tomasheva in Giurgiu auf der anderen Flussseite Wirtschaftsinformatik.
Dieser akademische Austausch steht mobilen Studierenden beider Länder seit Herbst 2002 offen. Damals nahm das "Bulgarisch-Rumänische Interuniversitäre Europazentrum" (BRIE) seine Tätigkeit auf. Initiiert wurde die Bildungsstätte, deren Institute für Wirtschaftsinformatik und Europastudien sich in Giurgiu und Russe befinden, von Deutschland. Langfristig ist vorgesehen, die Hochschule in die Trägerschaft des Berliner Amtes für Auswärtige Angelegenheiten überzuführen.
Aus Mitteln des Stabilitätspakts für Südosteuropa stellte Berlin eine halbe Million Euro für die erste grenzüberschreitende Bildungsstätte mit universitärem Charakter in diesem Teil Europas bereit. Ebenfalls beteiligt sind deutsche Stiftungen, darunter die Gemeinnützige Hertie-Stiftung, die Stipendien in Höhe von 400.000 Euro vergibt. Sie wählt mit dem universitären Zentrum für Europäische Integrationsforschung (Bonn) die Studienkandidaten aus, kümmert sich um Gastvorlesungen und entwickelte das Curriculum für den zweijährigen Master-Kurs Europastudien.
BRIE, das von der deutschen Hochschulrektorenkonferenz (HRK) koordiniert wird, steht unter der Schirmherrschaft der ehemaligen Bundestagespräsidentin Rita Süssmuth, die bei einer Pressekonferenz zum Abschluss des ersten Studienjahres in Russe grosse Hoffnungen auf Südosteuropas erstes grenzübergreifendes Hochschulinstitut setzte. Mit seinem Ausbildungsangebot könne BRIE dazu beitragen, "dass junge Menschen aus beiden Ländern an der Entwicklung ihrer Randregionen aktiv mitwirken" und über nationale Trennlinien hinweg ein "Wir-Gefühl" enstehe.
Davon ist auf beiden Seiten des breiten Donaustromes freilich noch nicht viel zu spüren. Es gibt nur wenig Austausch zwischen den Nachbarn, die den Entwicklungen im Nachbarland gegenüber kaum mehr als Indifferenz an den Tag legen. Auf Initiative der Europäischen Union ist zwischen der südrumänischen Walachei und dem nordbulgarischen Gebiet von Russe zwar die Euroregion Danubius gegründet worden; über politische Absichtserklärungen, bei Wirtschaft, Raumplanung, Umweltschutz und Tourismus künftig gemeinsam zu agieren, ist man indessen nicht herausgekommen. Dabei leiden die beiden Regionen nicht nur unter knappen Finanzen, es fehlen auch qualifizierte Mitarbeiter, denen die Zentralregierungen in Bukarest und Sofia aus Furcht vor Machtverlust nur zögernd die nötigen Kompetenzen übertragen.
Durch die zweiseitige Universität, der nach offizieller Darstellung die Funktion eines "Eisbrechers" zukomme, werde der lange erwartete Ruck durch die erstarrte Grenzlandschaft an der Donau gehen. Beim Aufbau des neuen Zentrums griff man auf bereits bestehende nationale Bildungsstätten zurück. Die Angel-Kanchev-Universität in Russe richtete 1993 einen auf Europathemen bezogenen Studiengang ein, in Giurgiu hatte die renommierte Bukarester Akademie für Wirtschaftswissenschaften ein Wirtschaftskolleg gegründet, um dem extrem strukturschwachen Raum südlich der Hauptstadt bildungspolitisch den Rücken zu stärken.
Während die 180.000 Einwohner zählende Stadt Russe, als "Rustschuk" einstmals Vorposten der österreichischen Wirtschaftsexpansion in Richung osmanisches Reich, BRIE die ehemalige deutsche Schule zur Verfügung stellte, mieteten die rumänischen Partner für den Wirtschaftsinformatikkurs Räume in einer Staatsschule an. Inzwischen erwarb man die Wohn- und Dienstgebäude einer ehemaligen Grenzwächterkaserne und plant ihren Umbau.
Das Lehrpersonal stammt aus Rumänien und Bulgarien, ergänzt durch kurzzeitig tätige Dozenten, die an der TU Chemnitz, den Universitäten Bremen und Mainz sowie der deutsch-polnischen Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder) angestellt sind. Zudem übertrug die Gelsenkirchener Fachhochschule ihr Modell eines Gründerzentrums, das in einer Textilfabrik am Stadtrand von Giurgiu eröffnet wurde.
Die ausländischen Dozenten halten ihre geringfügig angepassten Lehrveranstaltungen nun zusätzlich in den Partnerländern ab. Als Verkehrssprachen wählte man Englisch und Deutsch. Diese Sprachen müssen Bewerber ausreichend beherrschen, außerdem muss ein mit dem BA-Abschluss vergleichbares Diplom vorliegen.
Rund 50 Bewerber erhielten 2002 grünes Licht, rund die Hälfte konnte das erste Jahr erfolgreich abschliessen. In diesem Wintersemester verdoppelte sich die Zahl der Master-Studienanfänger, deren Begeisterung sich leicht nachvollziehen lässt.
Im dritten Semester ist ein halbjähriger Studienaufenthalt an einer der deutschen Partner-Hochschulen vorgeschrieben, und damit erwerben die Erfolgreichen nicht nur ein anerkanntes rumänisch-bulgarisches Doppeldiplom, sondern zudem einen der begehrten deutschen Abschlüsse, die in der ganzen EU anerkannt sind. Ausserdem verfügen die Institute links und rechts der Donau mittlerweile über Bibliotheksbestände und IT-gestützte Zugangsmöglichkeiten, die westeuropäischem Niveau entsprechen. Sema Ciorabai (24), die in Giurgiu Wirtschaftsinformatik studiert, bringt es auf den Punkt: "Wir arbeiten in Kleingruppen und schätzen den praxisorientierten Ansatz der deutschen Dozenten."
Das hat sich offenbar in anderen Balkanländern herumgesprochen. Zu den frisch immatrikulierten Gaststudenten zählen neben Esiola Mllja (22) aus Albanien die slowenische Soziologin Leja Drofenik (24) und Natascha Jovanolia (28) aus Mazedonien. Aus dem weit entfernten Studentenwohnheim, in dem sie sich zunächst einquartiert hatten, wollen sie möglichst schnell heraus, um in der Stadt eine gemeinsame Wohnung zu mieten.
Ihre Präsenz gibt der Donauhafenstadt Russe ein Bisschen von jener multikulturellen Atmosphäre der Zeit vor den Weltkriegen zurück, die Elias Canetti, berühmtester Sohn der Stadt, in seiner Biographie verklärt hatte: Kaum ein Tag sei vergangen, an dem man in den Strassen von Russe und Giurgiu, die damals eine Einheit bildeten, nicht sieben bis acht Sprachen vernommen hatte. Unterdessen hat sich auch die Lage an der Donaubrücke für die Mobilitätsstudenten von BRIE entspannt: Täglich verbinden Shuttle-Busse die beiden Institute, zudem haben sich die Behörden beider Länder darauf verständigt, dass bei Vorlage der Studienbescheinigung der Brückenzoll erlassen wird.
Informationen: www.brie.ru.acad.bg