Damals... vor fünf Jahren am 16. März 1999: Kollektiver Rücktritt der EU-Kommission
Eine Europäische Kommission, die die Kontrolle über die Verwaltung und die Finanzen der Europäischen Union verloren hat und damit auch die politische Verantwortung für Missmanagement, Geldverschwendung und Vetternwirtschaft trägt. Der rund 150 Seiten starke Prüfungsbericht, den die so genannten "Fünf Weisen" am 15. März 1999 vorlegen, kommt einem politischen Todesurteil gleich. Seine Ergebnisse und Vorwürfe an die Adresse der 20 EU-Kommissare scheinen die Vorurteile aller Europaskeptiker zu bestätigen. Der Bericht stellt fest: "Der Ausschuss fand keine Fälle, in denen ein Kommissar direkt und persönlich in betrügerische Aktivitäten verwickelt gewesen wäre. Allerdings fand er Fälle, in denen Kommissare oder die Kommission insgesamt die Verantwortung für Fälle von Betrug, Unregelmäßigkeiten oder Missmanagement in ihren Dienststellen oder Zuständigkeitsbereichen tragen. Darüber hinaus fand der Ausschuss keinen Beweis dafür, dass sich ein Kommissar durch Betrug, Unregelmäßigkeiten oder Missmanagement einen finanziellen Vorteil verschafft hätte."
Die Konsequenz ist unausweichlich. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Präsident der EU-Kommission Jaques Santer die Vorwürfe des Missmanagements schockiert zurückweist. Nach einer Nachtsitzung erklärt er am Morgen des 16. März 1999 den Rücktritt aller Kommissare. Dieser kollektive Rücktritt scheint unvermeidlich, nachdem sich die im Zentrum der Kritik stehende EU-Kommissarin Edith Cresson weigert, ihr Amt aufzugeben. "Ich habe in Brüssel gute Arbeit geleistet", betont sie bis zuletzt. Die ehemalige französische Premierministerin gehört der Kommission seit 1995 an und leitet dort das Ressort Wissenschaft, Forschung und Entwicklung.
Der damals 65-Jährigen, die als Nachfolgerin ihres legendären Landsmanns und Kommissionspräsidenten Jacques Delors in das Leitungsgremium der EU aufgerückt war, werfen die Fünf Weisen vor, bei einem befreundeten Zahnarzt eine AIDS-Studie in Auftrag gegeben zu haben, deren Kosten der Untersuchungsbericht mit rund 140.000 Mark beziffert und deren Ergebnisse er als "völlig wertlos" einstuft. Auch im Rahmen des EU-Bildungsprogramms "Leonardo" werden Unregelmäßigkeiten und Verschwendung von EU-Geldern gebrandmarkt.
Neben der französischen EU-Kommissarin gerät unter anderem auch ihre deutsche Kollegin Monika Wulff-Mathies ins Visier der Fünf Weisen. Der für Regionalpolitik zuständigen EU-Kommissarin und ehemaligen ÖTV-Vorsitzenden wird vorgeworfen, den Ehemann einer Freundin mit einem Beratervertrag beschäftigt zu haben und dabei gegen die Einstellungsvorschriften verstoßen zu haben. Anders als bei Cresson, wird der begünstigte Auftragnehmer allerdings als ausreichend qualifiziert eingestuft.
Ausgelöst worden waren die Untersuchungen durch den niederländischen EU-Finanzkontrolleur Paul van Buitenen, der seine Erkenntnisse über finanzielle Unregelmäßigkeiten bei verschiedenen EU-Programmen im Dezember 1998 an den Europäischen Rechnungshof in Luxemburg übergeben hatte und daraufhin von seinem Amt suspendiert wurde. Doch die Aufklärung lässt sich nicht aufhalten, und das Europäische Parlament (EP) verweigert der EU-Kommission am 16. Dezember 1998 die Entlastung für den EU-Haushalt von 1996. Einen Monat später lehnt das EP zwar mit 293 zu 232 Stimmen und bei 27 Enthaltungen ein Misstrauensvotum gegen die Kommission ab, verlangt aber die Vorlage eines Untersuchungsberichtes, der dann im März 1999 das politische Schicksal der Kommission besiegelt.
Nach dem kollektiven Rücktritt fordert der französische Staatspräsident Jacques Chirac: "Mehr als je zuvor braucht Europa effiziente und bürgernahe Institutionen." Und der amtierende Ratspräsident der Europäischen Union, Bundeskanzler Gerhard Schröder muss Krisenmanagement betreiben. Beim Berliner EU-Gipfel, bei dem die Agenda 2000 beraten werden soll, einigen sich die EU-Regierungschefs am 24. März 1999 auf einen Nachfolger für den zurückgetretenen Jaques Santer. Die Wahl fällt auf den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi. Zeitgleich zum Rücktritt der EU-Kommission beschließt der Rat der EU-Finanzminister die Einrichtung eines neuen EU-Amtes zur Betrugsbekämpfung.