Immer mehr Kinder in Deutschland sind zu dick, weil sie ungesund essen
Ihh, Papa, du kaufst ja Leiche!" Etwas genervt dreht sich der Angesprochene zu seiner halbwüchsigen Tochter um. Er weiß schon, was kommt: Fleisch auf unseren Mittagstisch? Nein, danke! Die Frauen in der Schlange grinsen, und die Verkäuferin fragt ungeduldig, ob sie den Schweinebraten nun einpacken soll. Eine alltägliche Szene im Supermarkt, die zeigt, wie selbstverständlich Kinder mitbestimmen, was bei ihnen zu Hause auf den Tisch kommt und was nicht. Vielleicht setzen sie sich mit ihrem Anspruch, sich vegetarisch zu ernähren, bei ihren Eltern nicht durch; aber Eltern versuchen, die Esswünsche ihres Nachwuchses nach Möglichkeit zu erfüllen. Eine Umfrage, die das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zusammen mit der Zeitschrift "Eltern" durchführte, ergab, dass dabei Nudeln, Milchprodukte und Obst ganz oben auf der Hitliste stehen - und natürlich Süßigkeiten.
Das Naschzeug allein ist allerdings kaum dafür verantwortlich, dass immer mehr Kinder zur Dickleibigkeit neigen: 14 Millionen Kinder sind europaweit übergewichtig, in Deutschland sind nach Schätzungen des Verbraucherministeriums jedes fünfte Kind und jeder dritte Jugendliche zu dick (adipös), mit besorgniserregender Tendenz nach oben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht sogar von einer "Epidemie". Experten sind sich darin einig, dass weniger genetische Anlagen - etwa der Mangel am "Sattmacher"-Hormon Leptin - als umweltbedingtes Fehlverhalten eine Rolle spielen, etwa zu wenig Bewegung und eine unausgewogene Ernährung. Der Schokoriegel in der Schulpause, die Pommes auf dem Nachhauseweg: Die Summe an schädlichen (versteckten) Fetten, Zucker und Kalorien, die Kinder aufnehmen und nicht verbrennen, ist enorm.
Dabei wissen schon die meisten Sechsjährigen, was gut für sie ist und was nicht; dass etwa Süßigkeiten den Zähnen schaden und sie lieber Obst essen sollten. Im Chat zwischen Kindern und Experten fragen die Kids beispielsweise: "Ich mag weder Obst noch Gemüse. Was soll ich essen, um mich trotzdem richtig zu ernähren?" Oder, ganz naiv: "Sind Pommes schädlich?" Trotz dieses Wissens konstatiert etwa der Kinderernährungsbericht Baden-Württemberg, dass 42 Prozent der 6- bis 14-Jährigen fast kein Obst essen, jedes fünfte Kind auf's Frühstück verzichtet und viele Kinder regelmäßig zu wenig und das Falsche trinken. Dies ist schon deshalb alarmierend, weil gerade im Vorschul- und frühen Schulalter die Essgewohnheiten ausgebildet werden, die Erwachsene lebenslang beibehalten.
Auch Armut spielt bei der Fehlernährung eine wichtige Rolle. Kinder aus sozial schwachen Haushalten werden laut dem ersten Armuts- und Reichstumsbericht der Bundesregierung häufiger ungesund ernährt als Sprößlinge, die in einem finanziell abgesicherten Milieu aufwachsen. Der Zwang zu billigen, sättigenden Lebensmitteln führe dazu, dass die Kinder zu viele Kohlehydrate und Fette zu sich nehmen. Wenn "Schmalhans" Küchenmeister ist, kommt zu wenig Gemüse oder Fisch auf den Tisch, und die Kost ist weniger abwechslungsreich.
Dicke Kinder sind nicht nur schwer. Sie haben es auch schwer, denn abgesehen von den gesundheitlichen Spätfolgen fühlen sie sich ausgegrenzt, und ihr Selbstwertgefühl leidet. Wenn ein Kind zu dick ist, ist das mehr als ein kosmetischer Makel. Aus ihm wird sehr häufig ein adipöser Erwachsener mit Risikofaktoren wie Bluthochdruck, erhöhte Cholesterinwerten, Zuckerkrankheit und Herzinsuffizienz. Die gesundheitlichen Folgen sind immens, von den Kosten für die Versicherungssysteme ganz abgesehen: "Wir sitzen auf einem Pulverfass", warnt Verbraucherministerin Renate Künast (Bündnis 90/Grüne), und moniert, dass die Industrie keine Bereitschaft zeige, den Anteil von Fetten, Zucker und Kohlehydraten in Produkten, die sich an Kinder und Jugendliche wenden, zu reduzieren.
Dabei wären die Kinder zu "überlisten", wenn sich "gesunde" Produkte ebenso an deren Wünschen orientierten wie andere Marktprodukte, die sich an den Nachwuchs richten. Da Kinder selbstständige Produktentscheidungen treffen, müsse man sie, so das Resultat einer Umfrage des Münchener Jugendforschungsinstituts iconkids & youth, "dort abholen, wo sie sind". Kinder wollen, "dass es toll und vielfältig schmeckt, sich im Mund gut anfühlt", dass die Verpackung ansprechend ist und vielleicht sogar eine kleine Beigabe enthält. Ernährung hat etwas mit Lifestyle zu tun, nicht nur bei Erwachsenen. So wenig die kleinen Vegetarier in der Regel Gesundheitsapostel sind, so wenig sind die jungen Fritten-Konsumenten Überzeugungstäter. Sie essen etwas, weil es "hype" aussieht, angenehm schmeckt und weil die Freunde es auch tun. Dort müsste man ansetzen.