Die ungewöhnliche Zeitschrift "Sinn und Form"
Das ganze Präsidium, alle Sekretäre der Sektionen, mit Ausnahme des Präsidenten Becher, muss auf demokratische Weise neu gewählt werden - und Ihnen, Herr Abusch, spreche ich schon jetzt mein schärfstes Misstrauen als Sekretär der Sektion aus." Dieses Zitat von Bertolt Brecht stammt aus einem Bericht des GI (Geheimer Informant) "Ernst". Reflektiert werden darin Inhalt und Atmosphäre einer Kommissionssitzung der Deutschen Akademie der Künste vom 2. Juni 1953, an der als Mitglieder neben Brecht Peter Huchel, Alexander Abusch, Friedrich Wolf, Paul Dessau und Herbert Ihering, als Nichtmitglieder Hanns Eisler und Arnold Zweig teilnahmen. "Brecht trat bei dieser Erklärung sehr diktatorisch und aggressiv auf", heißt es weiter.
Solche Auseinandersetzungen prägten die Geschichte der Ostberliner Akademie der Künste und insbesondere der von ihr herausgegebenen Zeitschrift "Sinn und Form", die der namhafte Lyriker Peter Huchel, parteilos wie Brecht, von 1949 bis 1962 leitete. Keiner der ihm folgenden Chefredakteure - von Bodo Uhse (1963) über Wilhelm Girnus (1964 - 1981) und Paul Wiens (1981 - 1982) bis Max Walter Schulz (1983 - 1990) - erreichte als Persönlichkeit, Publizist oder gar als Poet das herausragende Format des Begründers.
Die vorliegende Studie, verfasst von dem ausgewiesenen Literaturwissenschaftler Matthias Braun und erschienen als Band 26 der wissenschaftlichen Reihe der "Gauck-Behörde", untersucht das geistige Gewicht und die bemerkenswerte Wirkungsweise des Periodikums in erster Linie anhand des Profils und der Einflussnahme seiner Redaktionsleiter. Ob "Sinn und Form" durchweg "ein ungeliebtes Aushängeschild der SED-Politik" war, wie der Untertitel nahelegt, darf insoweit bezweifelt werden, als die Prämissen der Autoren und Redakteure gewiss differenzierter zu beurteilen wären.
Zahlreiche, aus dem heutigen Zeitabstand aufschlussreiche Dokumente belegen: Der Werdegang und die Resonanz der in der Kulturwelt international hoch angesehenen Zeitschrift waren eingeflochten in brisante politische Klimaschwankungen. Sie gipfelten in solchen Vorfällen wie der Biermann-Ausbürgerung von1976 und sie waren ständig von internen Konflikten einander widerstreitender geistiger Positionen begleitet, wobei letztere bisweilen ja durchaus fruchtbar sein konnten. Dass höchste Gremien der SED, allen voran deren Politbüro mit seinem indoktrinierten Ideologiechef Kurt Hager, der sich im Umgang mit Kulturschaffenden gelegentlich sogar moderat gab, wie Gesprächsprotokolle erhellen, nahmen sowohl auf die personelle Zusammensetzung der Redaktion als auch auf die inhaltlichen Veröffentlichungen Einfluss. Dasgalt in der kulturpolitischen Praxis der DDR als üblich und daher als unanfechtbar.
In welch gravierender und verästelter Weise allerdings der Staatssicherheitsdienst - "Schild und Schwert" der Partei - nicht bloß ihre vielen Beobachterposten durch zahllose Informanten auf verschiedenen Ebenen sicherte, sondern darüber hinaus Entscheidungen aus dem unsichtbaren Hintergrund manipulierte, ist nachgerade erstaunlich und noch im Rückblick empörend. So gelang es ihm, maßgeblich dazu beizutragen, dass Paul Wiens, IM "Dichter", trotz gewichtiger Einwände Franz Fühmanns und auch Stephan Hermlins 1981 an die Spitze der Zeitschrift gelangen konnte, wenn auch durch seinen frühen Tod nur für sehr kurze Zeit. Als Chefredakteur reichte Wiens sämtliche eingereichten Manuskripte unaufgefordert an seinen Führungsoffizier weiter.
Für die anderen genannten Nachfolger Huchels lässt sich bei aller Ambivalenz ihres geistigen Horizonts und ihres Charakters übereinstimmend sagen, dass sie reichlich Mühe hatten, zwischen ihrer "Partei und den Schriftstellern zu vermitteln", wie dies beispielsweise Wilhelm Girnus zugestanden wird. Der hatte lange vor seiner "Sinn und Form"-Zeit einst aus dogmatischer Sicht Ernst Barlachs Werk als hinterwäldlerisch plump und tumb solange verunglimpft, bis sich Brecht schützend vor das Erbe des Bildhauers und Dichters stellte; später - 1978 - plädierte Girnus für eine vergleichsweise tolerante, sogar vorwärts weisende Kulturpolitik. Die Zeitschrift müsse mindestens "um zwei, drei Jahre dem öffentlichen Literaturbewusstsein voraus sein", wenn auch damit in Kauf zu nehmen wäre, "dass sie dann und wann auf Widerspruch, ja auf Unwillen stößt".
Seit der Vereinigung der Ost- und der Westberliner Akademie im Herbst 1993 versteht sich "Sinn und Form" als gesamtdeutsche Zeitschrift, wie es ihre Gründer einst ja auch beabsichtigt hatten. Sebastian Kleinschmidt, seit 1991 Chefredakteur, hat daran gehörigen Anteil.
Ausgestattet ist diese ebenso ausführliche wie sorgfältige Untersuchung, die rein äußerlich leider den Eindruck eines biederen Schulbuchs hervorruft, mit zahlreichen Dokumenten, mit einem Literaturverzeichnis und Personenregister.
Matthias Braun
Die Literaturzeitschrift "Sinn und Form".
Ein ungeliebtes Aushängeschild der SED-Kulturpolitik.
Edition Temmen, Bremen 2004; 230 S., 22,90 Euro
Der Literaturwissenschaftler Detlef Hamer lebt in Rostock, wo er
als freier Publizist arbeitet.