Große Tage des Parlaments
Rund 31.000 Reden wurden im vergangenen Jahrzehnt im Plenum des Deutschen Bundestages gehalten. Einige Debatten waren besonders kontrovers und spannend – zum Beispiel jene über die erste Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im November 2005. Ein kleiner Streifzug durch die bedeutendsten Entscheidungen und Dispute der jüngsten Zeit.
30. November 2005: Ein Medienereignis
Für viele Medien war es ein historischer Tag: Zum ersten Mal war eine Frau Bundeskanzlerin geworden – und zum ersten Mal trat am 30. November 2005 mit Angela Merkel eine Ostdeutsche als Regierungschefin vor den 16. Deutschen Bundestag, um ihre Regierungserklärung abzugeben.
Zuvor hatte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Juli 2005 vom Bundestag das Vertrauen entziehen lassen. Bei den anschließenden Neuwahlen erhielten weder Rot-Grün, noch Schwarz-Gelb genügend Stimmen, um eine Regierung zu stellen. Zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte – nach 1969 – mussten sich CDU/CSU und SPD, vor der Wahl noch Gegner, zu Partnern in einer Großen Koalition zusammenfinden, mit der CDU-Chefin als Bundeskanzlerin und dem SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering als Vize-Kanzler.
Standortbestimmung der neuen Kanzlerin
Die rund 20-stündige Debatte, die mit der Regierungserklärung am 30. November 2005 begann und an zwei darauf folgenden Tagen fortgesetzt wurde, entwickelte ihre Brisanz vor allem durch die Frage, welche Ziele die Bundeskanzlerin stecken und wie sich die neue Opposition aus FDP, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und DIE LINKE. formieren würde. Angela Merkel nutzte ihre erste Regierungserklärung für eine sachlich vorgetragene, grundsätzliche Standortbestimmung.
"Mehr Freiheit wagen"
Die christdemokratische Bundeskanzlerin bezog sich dabei zunächst - für viele Beobachter überraschend - rhetorisch auf die Politik sozialdemokratischer Regierungschefs. Sie lobte Schröder "dass er mit seiner Agenda 2010 mutig eine Tür aufgestoßen“ habe und zitierte dann den früheren Bundeskanzler Willy Brandt: Dessen Slogan "Mehr Demokratie wagen" habe "jenseits der Mauer wie Musik“ geklungen. Sie wolle nun ergänzen: "Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen!“ Die neue "Koalition der Möglichkeiten“ wolle die Chancen nutzen, damit "Deutschland in zehn Jahren wieder zu den ersten drei in Europa gehört“, versprach Merkel. Dafür habe man aber "dicke Bretter zu bohren“. Der Arbeitsmarkt müsse "fit“ gemacht, die Schulen und Hochschulen wieder an die Spitze geführt, die Verschuldung gebändigt und die Gesundheits-, Renten- und Pflegesysteme reformiert werden. Trotzdem zeigte sich die CDU-Politikerin optimistisch: "Warum soll uns das, was uns früher in den Gründerjahren gelungen ist, heute nicht wieder gelingen?“
FDP: „Politik der Trippelschritte“ zu wenig
Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle warnte in seiner anschließenden Rede vor Merkels "Politik der Trippelschritte". Die Koalition müsse über die "Koalitionsvereinbarung des kleinsten gemeinsamen Nenners“ hinausgehen, sonst werde sie scheitern wie Rot-Grün. Der Devise „Mehr Freiheit wagen!“ müssten nun auch Taten folgen - gerade in der Gesundheitspolitik, bei der Forschung, bei der Steuerpolitik, forderte der FDP-Politiker und kritisierte: "Steuern zu erhöhen, heißt nicht, mehr Freiheit zu wagen!“ Die angekündigte Erhöhung der Mehrwertsteuer bedeutete mehr Unfreiheit für die Bürger. Außerdem zeige sie, dass man ein "Weiter so!" finanziere, anstatt echte Reformen anzustreben, monierte Westerwelle.
SPD: "Koalition des Machbaren"
Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Peter Struck, verteidigte dagegen die Regierungserklärung der Kanzlerin. Sie sei ein "solider Grundstock“ auf den die Große Koalition aufbauen könne. Er entgegnete Westerwelle, zur Erhöhung der Mehrwertsteuer habe es keine Alternative gegeben: "Koalitionsverhandlungen sind keine 'Wünsch dir was' -Veranstaltungen". Die neu gewählte Bundesregierung sei vor allem "eine Arbeitsregierung, eine Koalition des Machbaren“, betonte der SPD-Politiker. "Das mag dem einen oder anderen nicht sexy genug sein“, sagte er, aber Ziel sei, die Probleme des Landes zu lösen. "Es geht um ehrliche und solide Arbeit, ohne Schnörkel und ohne Schleifchen“, so Struck.
DIE LINKE.: Gesellschaft friedlicher machen
Ganz anders beurteilte Gregor Gysi, Vorsitzender der Fraktion Die LINKE., die Vorhaben der neuen Regierung: "Sie wollen Einsparungen im sozialen und im investiven Bereich vornehmen. Damit sparen Sie die Gesellschaft kaputt!“, empörte sich Gysi und beklagte zudem die sinkenden Reallöhne. Außerdem appellierte er an Merkel als"„Frau und Ostdeutsche“ ihre Amtszeit zu nutzen, um die Gesellschaft friedlicher zu machen. "Wäre es nicht schön, zu sagen: Die Gleichstellung der Geschlechter ist vorangekommen. Die Angleichung von Ost an West hat zugenommen?“, fragte Gysi. Dazu müsse Merkel aber ihre Regierungserklärung "weitgehend vergessen“.
Grüne: Keine Klimaschutz-Strategie, kein Verkehrskonzept
Der Fraktionsvorsitzende von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, Fritz Kuhn, vermisste in der Regierungserklärung eine klare Richtung: "Das waren Häppchen für jeden, der vorbeikommt“, kritisierte er. Es bleibe offen, wo die Kanzlerin "mehr Freiheit wagen“ wolle. Es müsse endlich der Wettbewerb auf dem Strommarkt gestärkt und gegen "Lobbys im Gesundheitssystem“ gekämpft werden, so Kuhn. Es fehle ferner eine Klimaschutz-Strategie, die die Abhängigkeit vom Öl beende, und ein neues Verkehrskonzept, so der Bündnisgrüne. "Herr Gabriel“, sagte er zum Bundesumweltminister gewandt, "wenn Sie hinter bisher Erreichtes zurückfallen, dann werden wir Sie in diesem Haus grillen wie eine Ökobratwurst, darauf können Sie sich verlassen!“, warnte Kuhn.