2.3.6
Europäischer Finanzmarkt und europäisches
Entwicklungsmodell
Trotz Binnenmarkt und Währungsunion ist
der Finanzmarkt in der EU nach wie vor ökonomisch und
politisch fragmentiert. Dies betrifft sowohl die Struktur des
Bankenwesens, also das Verhältnis von privaten Banken und
öffentlich-rechtlichen Instituten (vor allem Sparkassen und
Genossenschaftsbanken) und die Größenverhältnisse,
als auch die Regelsysteme. Die damit verbundenen Probleme erfordern
politische Gestaltung. Die Integration der verschiedenen nationalen
Finanzmärkte zu einem europäischen Finanzmarkt mit
abgestimmter und – wo erforderlich – harmonisierter
Aufsicht und Regulierung ist aus Stabilitäts- und
Effizienzgründen sowie zur Erhaltung der Integrität der
Finanzinstitutionen (in erster Linie zur Abwendung von
Geldwäsche) nicht nur wünschenswert: Sie ist eine
Notwendigkeit.
Ein effizienter europäischer Finanzmarkt
ist, wie die Erfahrung des europäischen Integrationsprozesses
in anderen Bereichen auch zeigt, nicht durch „negative
Integration“, also durch Deregulierung zu erreichen. Vielmehr
geht es um „positive Integration“, also um die
Errichtung eines Regelwerks zur Einbindung der Finanzmärkte in
die Leitlinien einer wirtschaftlichen Strategie, die nicht nur
– dies ist unstrittig – auf Wettbewerbsfähigkeit,
sondern auch auf Beschäftigung, soziale Sicherheit,
Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit sowie Demokratie
(auch in der Wirtschaft) als Kennzeichen des spezifischen
europäischen Entwicklungsmodells zielt. Sieben Argumente
sprechen für diese These.
(1) Ohne Zweifel hat die
Öffnung der Märkte die europäischen
Finanzinstitute einem stärkeren Konkurrenzdruck sowohl
innerhalb der EU als auch aus anderen Ländern, vor allem aus
den USA, ausgesetzt. Darauf haben die Finanzinstitute mit harten
Rationalisierungsmaßnahmen (die auch in der absehbaren Zukunft
anhalten und viele Arbeitsplätze im Sektor der
Finanzdienstleistungen kosten werden) sowie mit Fusionen und
Übernahmen zur Errichtung wettbewerbsfähiger
Größenklassen einzelner Institute reagiert.
Dass diese
Absicht nicht immer realisiert werden konnte und in manchen
Fällen, wenn sie denn realisiert worden war, zu hohen
Verlusten beigetragen hat, ist ein Hinweis auf die Schwierigkeiten
einer zukunftsfähigen Umstrukturierung des Sektors
europäischer Finanzdienstleistungen. Für die Nutz
nießer von Finanzdienstleistungen haben sich zum Teil
Vorteile, aber zunächst vor allem Nachteile ergeben.
(2) Auch in Europa wächst die
Bedeutung der Wert papierfinanzierung und daher wird
die Rolle der ins titutionellen Anleger in den meisten
Ländern wichtiger. Eine Folge dieser Tendenz fort von
„Face-to-Face“-, also von kundenorientierten
Kreditbeziehungen hin zu marktbasierten, verbrieften
Finanzierungsmodellen ist der beobachtbare Rückzug gerade der
großen international tätigen Institute aus dem
Massegeschäft mit kleinen und mittleren Klienten und die
Tendenz zur Betreuung von Kunden mit großen Vermögen.
Wie bereits im über die
Finanzierung von kleinen und mittleren Unternehmen angesprochen
(vgl. hierzu Kapitel 2.3.3.1),haben die
Verdrängung von regional tätigen öffentlichen oder
öffentlich geförderten Sparkassen, Depot- und
Kreditbanken oder dem genossenschaftlichen Sektor negative
Wirkungen auf eine tragfähige Wirtschaftstruktur. Die
unverzichtbare Funk tion dieser Institute ist die regionale
oder lokale Kreditversorgung; diese muss gewährleistet
bleiben, auch wenn im deregulierten internationalen Wettbewerb
solche Institute wenig Chancen hätten. Denn die Folge
könnte sein, dass die Geld- und Kreditversorgung in der
Fläche ausdünnt. Dies ist beispielsweise in
Großbritannien der Fall (Cruickshank 2000) – mit
negativen Effekten auf die regionale Wirtschaftsentwicklung. Eine
Politik, die darauf besteht, dass eine stabile Geld- und
Kreditversorgung auch auf dem Land ein wichtiges öffentliches
Gut ist, kann und sollte sich auf die im Herbst 2000 von der EU
verabschiedete Mit teilung zur allgemeinen Daseinsvorsorge
(„General Interest“) stützen.
(3) Eine
besonders problematische Entwicklung europäischer
Finanzmärkte könnte sich bei der Finanzierung von
Teilen der Systeme der sozialen Sicherheit (Alters
sicherung, Gesundheitsversorgung) mit Hilfe
Kapitaldeckungsverfahrens abzeichnen. Es ist eine ernst zu nehmende
Gefahr, dass „menschliche Sicherheit“ (vgl. dazu den
Human Development Report der UNDP 1994) den Risiken und
Instabilitäten der Finanzmärkte ausgesetzt wird. Dies ist
ein außerordentlich wichtiges Thema; es zeigt, wie die
Tendenzen globaler Finanzmärkte lebensweltliche Auswirkungen
haben können. Es war allerdings der Enquete-Kommission nicht
möglich, dieses Problem in einer seiner Bedeutung angemessenen
Form zu bearbeiten und Empfehlungen zu formulieren. Das Thema
sollte Gegenstand weiterer Beratungen sein.
(4) Die Formierung eines stabilen und
effizienten europäischen Finanzmarkts, der die Finanzierung
von Inves-titionen aus der längerfristigen privaten
Vermögensbildung erreicht, wird durch die Steuerpolitik
in der EU sowohl auf der Angebots- als
auch auf der Nachfrageseite beeinflusst.27 Besonders problematisch sind die Regeln
der Besteuerung von Unternehmensgewinnen und von Zins- und
Dividendeneinkünften innerhalb der EU und im näheren
Ausland. Zum Teil herrscht Steuerwettbewerb, durch den die
Mitgliedsländer der EU Direkt- und Portfolioinvestitionen auf
Kosten anderer Mitgliedsländer ins Land holen wollen. Fairer
Steuerwettbewerb verwandelt sich unvermeidlich in
„schädlichen Steuerwettbewerb“, wenn die wichtigen
Aufgaben der Daseinsvorsorge (immaterielle und materielle
Infrastruktur) nicht mehr aus dem Steueraufkommen gedeckt werden
können. Ein „Race to the Bottom“, ein Wettbewerb
der Standards nach unten, ist für alle Beteiligten
schädlich.
Daher hat die
europäische Kommission ebenso wie die OECD das Problem des
schädlichen Steuerwettbewerbs thematisiert. Für die
Zinsbesteuerung hat die EU zur Unterbindung des schädlichen
Steuerwettbewerb beschlossen, ab 2010 allgemeine
Kontrollmitteilungen über Kapitalerträge in der EU
einzuführen. Allerdings ist die Umsetzung dieses Beschlusses
von der Kooperation anderer Finanzplätze außerhalb der EU
abhängig gemacht worden. Die USA, die ursprünglich nicht
kooperierten, praktizieren seit dem 11. September 2001 das System
der Kontrollmitteilungen. Die EU sollte jedenfalls ihr Gewicht
selbstbewusst und zielführend in die Verhandlungen einbringen
und ihre Maßnahmen nicht von den Entscheidungen anderer
Partner abhängig machen. Bei der Unternehmensbesteuerung
plädiert die EU für größere Transparenz und
eine Harmonisierung der Bemessungsgrundlagen. Das ist zwar
sinnvoll, sollte aber durch Harmonisierung in anderen Bereichen der
Steuerpolitik ergänzt werden.
(5) Die durch den Stabilitäts-
und Wachstumspakt erzwungene fast ausschließliche
Konzentration der Haushaltspolitik der EU-Mitgliedsstaaten
auf die Verminderung der öffentlichen Defizite ist für
die Entwicklung der europäischen Finanzmärkten eine
Belastung. Denn verbriefte Staatsanleihen stehen Sparern und
anderen Geldvermögensbesitzern nur noch in abnehmenden
Maße zur Verfügung. Alternative Anlagemöglichkeiten
im privaten Sektor haben sich als nicht ausreichend zur Absorption
der Liquidität herausgestellt. Daher trägt auch Europa zu
der hohen Überschussliquidität bei, deren Aufbau die BIZ
seit Mitte der 90er Jahre beobachtet und kritisch kommentiert hat.
Die hohe Liquidität ist auch nicht durch die
außerordentlich restriktive Ausrichtung der Geldpolitik der
nationalen Zentralbanken seit Maastricht 1991 und später der
EZB seit 1999 vermindert und verhindert worden. Sie hat dadurch,
dass sie das Zinsniveau trotz abnehmender Inflationsgefahren
vergleichsweise hoch gehalten hat (vgl. Kapitel 2.2.3),dazu geführt, dass das
Wachstum in Europa seit den späten 90er Jahren schwach und die
Arbeitslosigkeit hoch blieben.
(6) Die Entwicklung des
europäischen Finanzmarkts resultiert aus den Entscheidungen
der vielen Akteure. Darunter haben auch die offiziellen
Institutionen und Regierungen ein beträchtliches Gewicht.
Insbesondere haben die Interventionen der EZB eine zumindest
orientierende Funktion. Für die Funktion der Finanzmärkte
insbesondere bezüglich der Finanzierung von Investitionen
wäre eine langfristig angelegte und den realwirtschaftlichen
Rückwirkungen der Geldpolitik explizit Rechnung tragende
Politik angemessen. Dazu gehört auch, wie in Empfehlung 2-7
zum Ausdruck gebracht worden ist, eine verbesserte
Politikkoordination.
(7) Auch die Finanzaufsicht
über die Integrität der Finanz institute wird
mehr und mehr europäisiert angesichts der
Währungsintegration und der Integration der Finanzmärkte.
Die Richtlinie zur Geldwäsche, die darauf bezogenen
nationalstaatlichen Gesetze und die Empfehlungen der OECD sind ein
wichtiger Ansatz, auf die in Kapitel
2.3.2bereits eingegangen wurde.
27 Auch wenn die EU heute schon fiskalpolitische Akzente
setzen wollte, so wäre dies bei dem EU-Haushalt 1999 von ca.
93 Milliarden Euro (gemessen am Europäischen
Bruttoinlandsprodukt mit 8.016 Milliarden Euro)
gesamtwirtschaftlich praktisch bedeutungslos.
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