Alltag in der russischen Metropole
Geschichten und Ereignisse, in denen sich die große Politik nicht widerspiegelt, markieren trotzdem das Leben einer Stadt. Die Protagonisten sind in der Regel kleine Leute, die zu ihrer Umgebung ein besonderes Verhältnis haben. In Moskau, der pulsierenden Zehn-Millionen-Hauptstadt Russlands, haben sich in der Ära Luschkow große Veränderungen vollzogen. Hier fühlen sich nicht nur das ausländische Kapital heimisch, sondern offenbar auch die Heldinnen und Helden jener 21 Geschichten, die Christine Hamel entdeckt und beschrieben hat.
Die Orte, an denen sich die Geschichten abspielen, sind jene Stellen, die Moskau - als Stadt und Phänomen - auf der Achse zwischen Vergangenheit und Zukunft prägen. Jewgenij Wassilijewitsch zum Beispiel ist Metrofahrer, genau wie sein Vater. Er verbringt seine ganze Arbeitszeit unter der Erde. Er ist stolz auf seine Arbeit, liebt die Schnelligkeit, Zuverlässigkeit und Sauberkeit seiner Züge. Während der Fahrten im Tunnel hat er sich die Kunst des langfristigen Denkens angeeignet. An der unterirdischen Bahn schätzt er am meisten, dass hier, und nur hier, das Leben im guten Sinne des Wortes altmodisch blieb.
Im Weltraumstädtchen "Swesdnyj gorodok" geht es auch nicht nur zukunftsorientiert zu. Dort lebt die große Kosmonautenfamilie des Landes, etwa 7.500 Menschen. In der Allee der Helden ist auch die Vergangenheit präsent. Im ersten Haus dieser Prachtstraße lebte Jurij Gagarin. Heute steht sein Schreibtisch im hiesigen Museum und nimmt immer noch die Schwüre der Kosmonauten der jüngeren Generation ab. Angeblich geht ein dort geäußerter Wunsch immer in Erfüllung.
Grigorij Sacharow studiert Poesie im Gorkij-Literaturinstitut bei der Lyrikerin Tatjana Bek. Bevor er sich den Reimen widmet, holt er sich jeden Morgen ein Glas Milch. "Für den gerade erst Zwanzigjährigen erfüllte sich mit der Aufnahme ans Literaturinstitut ein Wunschtraum, wie sonst wäre er dichtend der russischen Provinz entkommen?" - so die Autorin und stellt dann die Stiftung "Memorial" vor, genauer gesagt, überlässt sie diese Arbeit Walerija Ottonowna, die sich als Opfer des "Großen Terrors" jeden Mittwoch mit ihren Schicksalsgenossen trifft.
Eine Protagonistin der jüngerer Generation und mit anderem familiären Hintergrund geht einer völlig anderen Beschäftigung nach: Sie erlernt in einem Klub den Beruf einer fernöstlichen Geisha. Über den Kurs, den sie besucht, wird ganz im Zeichen der Modernisierung in der Duma-internen Zeitschrift ausführlich berichtet. Auch in Moskau kann man mit zwei kreativen Händen Kunst ausüben; dies tun zahlreiche Stricker und Strickerinnen. Ihr Werk, ein "Pullover für Russland" in der Größe XXXXXL, wurde unlängst zur Freude vieler Besucher am Miusskaja Platz ausgestellt.
Die Agentur "Ehemänner für eine Stunde" ist eine einzigartige Institution, vielleicht einmalig auf der ganzen Welt. In dem kleinen Büro stehen nur ein Schreibtisch und mehrere Telefonapparate. Dort rufen verzweifelte Frauen an, die ihren Ehemännern nicht mehr trauen oder von ihren Versprechungen genug haben, sich endlich um die fälligen Reparaturen im Haus zu kümmern. Demgegenüber reicht bei der Handwerker-Firma ein Anruf, und was kaputt ist, wird termingerecht und gewissenhaft erneuert.
Christine Hamel versteht solche Frauen und Männer, die von Literaturwissenschaftlern, Historikern und Reiseführerautoren nicht wahrgenommen werden. Sie weiß, dass Marina Scherbakowa, die Aufseherin in dem Literaturmuseum "Marina Zwetajewa", alle Gedichte ihrer Lieblingspoetin auswendig kennt, dass es im Kreml eine winzige Wohnung gibt und man mit dem Nähen von Fahnen heutzutage gute Geschäfte machen kann. Ihr Erzählton ist liebevoll und klar, sie möchte ihr Wissen niemandem eintrichtern, sie bietet lediglich bunte Menschen und Situationen.
Kein Moskaubesucher sollte auf diese Lokalkolorit atmenden Episoden verzichten; ohne sie, ohne die Mannigfaltigkeit der zum geflügelten Wort gewordenen "russischen Seele" kann man sich über Moskau kein vollständiges Bild machen.
Christine Hamel
Bitte anschallen Richtung Zukunft!
Moskauer Pirouetten.
Picus Verlag, Wien 2004; 132 S., 13,90 Euro