Anhörung
Europa. Die geplante Verfassung der Europäischen Union (EU) führt zu einer Erweiterung der Mitsprachemöglichkeiten der nationalen Parlamente und damit des Deutschen Bundestages bei der Brüsseler und Straßburger Gesetzgebung. Diese Überzeugung äußerten übereinstimmend Europawissenschaftler zum Auftakt einer Anhörung am 16. März zur neuen Konstitution der Staatengemeinschaft und zu Anträgen aller Bundestagsfraktionen über eine Stärkung der Mitwirkungsrechte des Bundestags bei Politik und Rechtsetzung der Europäischen Union ( 15/4900, 15/4939, 15/049, 15/4716, 15/4936 und 15/4937).
Allerdings wiesen einzelne Sachverständige darauf hin, dass der wachsende Einfluss der EU auch mit Kompetenzverlusten der nationalen Volksvertretungen verbunden sei. Die Verfassung der Europäischen Union tritt in Kraft, wenn sie in allen 25 Mitgliedsländern von den Parlamenten oder bei Referenden durch den Bevökerung gebilligt wird.
Die neue Konstitution sieht vor, dass nationale Parlamente unter gewissen Voraussetzungen gegen die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips durch Brüssel klagen können. Aus Sicht von Professor Ingolf Pernice (Humboldt-Universität Berlin) wird die Rolle der nationalen Abgeordnetenhäuser auch durch eine erweiterte Öffentlichkeit der Tagungen des Europäischen Rats aufgewertet: So könne der Bundestag die hiesigen Minister bei Verhandlungen auf EU-Ebene intensiver kontrollieren, die Minister gerieten unter einen verstärkten Rechtfertigungsdruck gegenüber den heimischen Parlamentariern.
In der Verfassung werde zudem ein "Frühwarnsystem" institutionell verankert: Die Pflicht zur rechtzeitigen Information der Volksvertretungen in den Mitgliedsstaaten über geplante EU-Gesetze erlaube es den nationalen Abgeordneten, besser als bislang bei der Ausarbeitung von Richtlinien der Europäischen Union mitzubestimmen.
Angesichts der fortschreitenden Kompetenzverlagerung in Richtung Brüssel werde sich die Rolle des Bundestags aber zusehends auf die Kontrolle und die Umsetzung der Brüsseler Entscheidungen konzentrieren: Die Zeiten einer vollen Entscheidungshoheit des deutschen Parlaments über die hiesige Gesetzgebung seien vorbei.
Auch Professor Peter-Christian Müller-Graff (Uni versität Heidelberg) sieht in der EU-Verfassung einen "demokratischen Legitimationsgewinn": Der Bundestag werde mehr Einfluss auf die Rechtsetzung der Europäischen Union nehmen können. Bisher sei die nationale Volksvertretung im Prinzip erst bei der Umsetzung Brüsseler Richtlinien ins Spiel gekommen, wie etwa der Streit um das Antidiskriminierungsgesetz zeige.
Positiv stuft Professor Ulrich K. Preuß (Freie Universität Berlin) den Begründungszwang der Kommission der Europäischen Union gegenüber den Abgeordnetenhäusern in den Mitgliedsstaaten im Falle neuer Brüsseler Richtlinien ein. So müssten die EU-Instanzen intensiver als bislang üblich die Auswirkungen ihrer Politik vor Ort in den einzelnen Ländern bedenken, so der Sachverständige.
Bisher schaffe Brüssel etwa über die Durchsetzung des Binnenmarkts auf nationaler Ebene Probleme, mit denen sich dann die jeweiligen Regierungen herumzuschlagen hätten. Als Beispiel führte Preuß die Folgen des wirtschaftlichen Standortwettbewerbs im Blick auf die neuen Mitgliedstaaten der Eurpäischen Union in Osteuropa an.
Andreas Maurer von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärte bei dem Hearing, durch die Verfassung werde die EU insgesamt parlamentarischer und demokratischer. Mehrere Sachverständige wiesen in diesem Zusammenhang auf die erweiterten Rechte des EU-Parlaments etwa bei der Wahl des Kommissionspräsidenten oder beim Haushalt hin.
Maurer machte indes darauf aufmerksam, dass die Kompetenzverlagerung von den nationalen Volksvertretungen auf die Europäische Union nicht umfassend durch einen entsprechenden Zuwachs an Mitbestimmungsrechten für das EU-Abgeordnetenhaus wettgemacht werde.
Dies gelte zum Beispiel für die Außen- und Sicherheitspolitik. Müller-Graff betonte, dass von einer echten Parlamentarisierung der EU-Gesetzgebung nicht gesprochen werden könne.
Professor Peter M. Huber (Universität München) erläuterte, dass die im deutschen Grundgesetz garantierten unveräußerlichen Grundrechte im Prinzip durch die Verfassung der Europäischen Union nicht tangiert und beeinträchtigt würden. Langfristig bestehe jedoch die Gefahr, dass das Grundgesetz gegenüber der EU-Konstitution mehr und mehr an eigenständiger Bedeutung verliere - so wie es hierzulande bei den Verfassungen der Bundesländer im Verhältnis zum Grundgesetz geschehen sei.