"Ich wollte eigene Positionen einbringen"
Sommerpause im Bundestag - Zeit für das bundestag.de-Sommerinterview: Langjährige Abgeordnete aller Fraktionen berichten an dieser Stelle über ihre Erfahrungen im Parlament. Heute: Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Sie sitzt seit 2002 im Deutschen Bundestag.
Frau Andreae, warum haben Sie 2002 erstmals für den Bundestag kandidiert?
Ich war Gemeinderätin in der Stadt Freiburg und stand an dem Wendepunkt, ob ich die Politik zu meinem Hauptberuf machen will. Aufgrund meines Sohnes, der damals zwei Jahre alt war, war ich geprägt durch die familienpolitischen Debatten. Das Parlament schien eine gute Möglichkeit, auch eigene Positionen einzubringen.
Was war das für ein Gefühl, als Sie das erste Mal als
Abgeordnete im Plenarsaal saßen?
Das war ein erhabenes Gefühl. Ich war sehr beeindruckt und kam mir doch sehr klein vor in diesem großen Saal mit all den anderen Abgeordneten. Aber ich war voller Respekt vor diesem Parlament - ein Gefühl, das ich mir bis heute bewahrt habe.
Wovon handelte Ihre erste Rede?
Das war eine Aktuelle Stunde zur Familienpolitik. Im Nachhinein war ich ganz froh, dass es eine Aktuelle Stunde war. Denn in diesen Debatten stellt keiner Zwischenfragen und alle waren freundlich. Nach der ersten Rede wird ja auch immer von allen applaudiert. Das waren meine ersten fünf Minuten als Rednerin im Parlament.
Es heißt oft, dass die wichtigen Entscheidungen hinter den
Kulissen fallen. Wie viel Zeit verbringen Sie im Plenarsaal im
Vergleich zu der Zeit, die Sie für Fraktionssitzungen,
Arbeitsgruppen und anderes benötigen?
Da ich, wie alle anderen auch, nur zu den mich betreffenden Tagesordnungspunkten und zur Kernzeit anwesend bin, schätze ich, dass ich etwa 20 Prozent meiner Zeit im Plenarsaal verbringe. Mir ist es deshalb immer wichtig, meinen Besuchergruppen deutlich zu machen, dass wir die anderen 80 Prozent nicht zur Freizeit nutzen, sondern hohe Anforderungen an uns gestellt werden mit vielen Gesprächen und Terminen.
Welche Plenardebatte war für Sie die
bedeutendste?
Mir sind zwei sehr gut in Erinnerung geblieben. Die eine Sitzung war die, in der der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Vertrauensfrage gestellt hat. Die zweite war die, in der wir in einem formalen Akt die Immunität des FDP-Abgeordneten Jürgen W. Möllemann aufheben mussten. Es war nur eine Formalität, darüber wurde nicht debattiert und ich war damals nur zufällig im Plenum, aber der direkte Zusammenhang mit seinem Freitod berührt mich bis heute.
An was können Sie sich auch nach all den Jahren im Bundestag
nicht gewöhnen?
Ich finde es immer noch unangenehm, dass in vielen Aspekten unserer Arbeit, gerade wenn sie öffentlich geschieht wie im Plenarsaal, die Parteipolitik vor der Sachpolitik steht. Es gibt dieses große Gegeneinander zwischen Koalition und Opposition in der Öffentlichkeit, hinter verschlossenen Türen sagt man sich aber gegenseitig doch, dass der Andere Recht hat. Daran habe ich mich immer noch nicht gewöhnt.