11.4.2.3 Protektionismus des Nordens
Anhaltende massive
Marktzugangsbeschränkungen des Nordens sind nach gemeinsamer
Einschätzung von OECD und IWF10 das zentrale handelspolitische
Nord-Süd Thema. Sie betreffen schwerpunktmäßig
Agrarprodukte sowie Textilien und Bekleidung.
Schätzungen von WTO und UNCTAD über
das potentiell mögliche zusätzliche Exportvolumen des
Südens bei Fortfall aller Zugangsbeschränkungen des
Nordens bewegen sich zwischen ein und zwei Mrd. US-Dollar pro
Tag.11 Dies würde
für die Länder des Südens eine Ausweitung ihrer
Exporteinnahmen um bis zu 50 Prozent bedeuten und einer Anzahl von
ihnen damit dringend benötigte Mittel zur eigenständigen
Entwicklungsfinanzierung bereitstellen können
Die in Empfehlung 3-8 zu recht
angesprochene, die Chancen der Entwicklungsländer
diskriminierende, Art der Zollerhebung bedeutet heute12 noch immer, dass zwei so
unterschiedliche Länder wie die Mongolei und Norwegen an die
USA jährlich Einfuhrzölle von 23 Mio. US-Dollar bezahlen,
mit dem Unterschied, dass die Mongolei dafür Strickwaren im
Werte von 143 Mio. US-Dollar und Norwegen Rohöl, Triebwerke
und geräucherten Lachs für 5,2Mrd. US-Dollar verkaufen
konnte. Jeder in den USA erzielte Dollar ist damit für die
Mongolei mit 16 Cents und für Norwegen mit 0,5 Cents belastet
. Auch im Rahmen der EBA Initiative der EU wird die Mongolei weiter
Zoll zahlen müssen, da sie nicht zu den dort begünstigten
49 ärmsten Ländern gehört. Weitere
Marktöffnungen gerade für weiter entwickelte
Entwicklungsländer sind für deren angestrebte tiefere
Integration in den Weltmarkt vordringlich.
Tarifäre Zugangsbeschränkungen,
wie sie im Vordergrund der Empfehlung 3-8 stehen, stellen
heute nicht mehr das Haupthemmnis beim Marktzugang für
Entwicklungsländer dar. Der oben genannte Trade and
Development Report (UNCTAD 2002) verweist auf die seit 1980
erheblich gestiegenen Anteile der Entwicklungsländer am
Welthandel insgesamt und speziell am Industriegüterhandel.
Diese zahlenmäßigen Zuwächse sind aber aufgrund der
nördlichen Marktbarrieren mit einer Vielzahl von strukturellen
Fehlallokationen in Entwicklungsländern verbunden, die dazu
beitragen, dass der Zuwachs des für das innere Wachstum dieser
Länder notwendigen Wertschöpfungsanteils mit ihrer
Handelsentwicklung nicht Schritt hält, ja sich teilweise sogar
gegenläufig entwickelt. Die Industrieländer haben danach
dagegen seit 1980 15 Prozent Marktanteile verloren, aber u.a. durch
ihre Kontrolle weltweiter Produktionsnetze13 ihren Wertschöpfungsanteil um 15
Prozent erhöhen können. Ein Gegensteuern würde eine
stärkere Ansiedlung von Wertschöpfungsketten im
Süden verlangen. Die Zugangsbarrieren führen auch zu
einem verschärften Konkurrenzkampf von
Entwicklungsländern untereinander mit nachteiligen
Auswirkungen auch auf Sozialstandards. In diesem Zusammenhang
stellen aus wachsenden Ansprüchen der Verbraucher im Norden
resultierende Standards (s. Kapitel
11.4.2.4) eine weitere noch ungelöste handelspolitische
Herausforderung dar.
Anti-Dumping Maßnahmen (s. Kapitel 3.3.2.1.) sind ein indirekter aber vor
allem gegenüber schwachen Ländern mit wenigen
Exportgütern höchst wirksamer und häufig
protektionistisch missbrauchter Schutzmechanismus. Die
Empfehlung 3-9 bleibt hier im Rahmen der EU-Position und
berücksichtigt nicht auch nach Meinung von OECD und
UNCTAD14 sinnvolle
Schritte zur Einschränkung des Missbrauchs durch starke
Länder, wie er von Entwicklungsländern im Hinblick auf
das Auslaufen des besonderen Schutzes nördlicher Produzenten
von Textilien und Bekleidung ab 2005 befürchtet wird.
„Special and Differential
Treatment“ (s. Kapitel 3.3.2.2.)
ist eine handelsrechtliche Ausformung des nur partiell ins GATT und
später die WTO aufgenommenen Grundsatzes der Solidarität,
mit dem Ziel, den grundsätzlichen kräftemäßigen
Nachteilen von Entwicklungsländern in einer Freihandelsordnung
mittels systematischer entwicklungsförderlicher
Ausnahmeregelungen gerecht zu werden. In ihrem Rahmen gibt es derzeit über 145 spezielle
Regelungen.15
Aus Sicht der Entwicklungsländer ist der
Anspruch aber immer mehr zu einem Druckmittel der
Industrieländer für Wohlverhalten einzelner
Länder(-gruppen) verkommen. Aus solchen Erfahrungen stammt die
Forderung einer Reihe von Entwicklungsländern, hierfür
ähnlich bislang meist von IL durchgesetzten Sonderabkommen der
WTO ein Rahmenabkommen zum „special and differential
treatment“ mit einem höheren Maß an
Verlässlichkeit für die Begünstigten zu entwickeln.
UNCTAD und OECD haben auch hierzu vielfältige Vorschläge
unterbreitet, die deutlich über die Empfehlung 3-10
hinausreichen.16
Nahezu ein Tabuthema für den Norden ist
im Zusammenhang der Marktöffnung allerdings die Mobilität
von Arbeitskräften.17 Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass wir
unseren Wohlstand und Frieden auf Dauer nur bewahren können,
wenn es gelingt, dass Hunderte von Millionen von Menschen in den
(„Jobs to the people“) Entwicklungsländern u.a.
durch eine weit reichende Marktöffnung im Norden für sich
und ihre Kinder mehr Perspektiven als bisher sehen.
10 Siehe OECD (2001: 10), ähnlich IWF Direktor
Horst Köhler (2001: 24).
11 700 Mrd. US-Dollar jährlich für das Jahr
2005 hat die UNCTAD (2002: 46, 136) geschätzt Moore (2002);
schätzt für heute die Hälfte.
12 Moore (2002).
13 OECD (2001: 24), UNCTAD (2002: 73 ff., 99
ff.).
14 OECD (2001: 12, UNCTAD (2002: 62).
15 OECD (2001: 13).
16 UNCTAD (2002: 42 ff., OECD (200: 105 ff.).
17 Im Zwischenbericht (2001: 70) war hierfür noch
eine besondere Behandlung in der weiteren Arbeit der Kommission
vorgesehen. Die GATS Verhandlungen schließen eine Lockerung
für befristet tätige Fachleute ein. Siehe dazu auch
Kapitel 3.3.3.5.7.
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