Es ist ein Wahlkrimi, wie ihn die Republik noch nicht erlebt hat: Union und SPD liegen am Wahlabend in den Hochrechungen Kopf an Kopf, mal hat die eine, mal die andere die Nase vorn. Erst nach Mitternacht steht der Wahlsieger fest: Rot-Grün unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) kann weiterregieren. Das dramatische Finish ist der letztlich konsequente Schlusspunkt eines Achterbahn-Wahlkampfs, in dem Sozialdemokraten und Konservative in der Gunst des Wählerpublikums abwechselnd vorn liegen.
22. September 2002, 18 Uhr: Die ersten Prognosen zum Ausgang der Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag flimmern über die Bildschirme. Und ergeben ein verwirrendes Bild: Bei der ARD liegt die SPD hinter, bei RTL vor, beim ZDF gleichauf mit der Union.
Um diese Zeit tigert Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in seinem Parteibüro „unruhig um den Schreibtisch, durchs Vorzimmer und über die Flure“, wie das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zwei Tage später zu berichten weiß. Neue Hochrechnungen sehen die Union derweil klar vor der SPD, Schröders Herausforderer, der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU), lässt sich von seinen Anhängern im Konrad-Adenauer-Haus bereits als Sieger feiern.
Doch der Kanzlerkandidat der Union hat sich zu früh gefreut: Nach einem Wechselbad der Hochrechnungen und Gefühle, das stundenlang anhält, steht nach Mitternacht schließlich fest: Schröder kann seine Regierung mit einem hauchdünnen Vorsprung fortsetzen.
Das äußerst knappe Ergebnis ist die Quittung der Wählerinnen und Wähler für eine Regierungsbilanz, die mehr als durchwachsen ist. Beherrschendes Thema im Wahlkampf ist die hohe Arbeitslosigkeit. Zu Beginn seiner Amtszeit 1998 hatte Schröder dieses Thema zur Chefsache gemacht. „Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosenquote signifikant zu senken, dann haben wir es weder verdient, wiedergewählt zu werden, noch werden wir wiedergewählt“, so der Kanzler damals.
An diesen Worten muss er sich nun angesichts einer fast unverändert hohen Zahl von vier Millionen Menschen ohne Arbeit messen lassen. Hinzu kommt, dass sich aus Sicht der Bürger die wirtschaftliche Lage seit Beginn des Jahres 2001 stetig verschlechtert hat.
Beste Voraussetzungen also für die Union, um einen Regierungswechsel herbeizuführen. Traditionell wird den Konservativen die höhere Kompetenz in Wirtschaftsfragen bescheinigt. Stoiber, dem ohnehin der Ruf eines erfolgreichen Problemlösers in ökonomischen Fragen vorauseilt, setzt daher ganz auf einen Wirtschaftswahlkampf.
Im direkten Vergleich der Kanzlerkandidaten schneidet Stoiber allerdings deutlich schlechter ab als Schröder. Fatal in einer Zeit, in der die Wahlkämpfe zunehmend personalisiert und amerikanisiert werden - nach US-Vorbild finden 2002 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik zwei Fernsehduelle der beiden Kanzlerkandidaten statt.
Zwar halten die Wählerinnen und Wähler Stoiber insgesamt für kompetenter darin, Arbeitsplätze zu schaffen und die ökonomischen Probleme des Landes zu lösen. Doch was die Bewertung persönlicher wie politischer Führungseigenschaften wie Sympathie, Glaubwürdigkeit, die Lösung von Zukunftsproblemen sowie die Fähigkeit, eine Regierung zu führen und deutsche Interessen zu vertreten, betrifft, liegt Schröder zum Teil weit vor seinem Herausforderer.
So deutet sich schon im Wahlkampf ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden großen Volksparteien an, in dem mal die eine, mal die andere die Nase vorn hat - bis wenige Wochen vor der Wahl die Flutkatastrophe über den Osten Deutschlands hereinbricht, die Aufbauarbeit der letzten zehn Jahre in vielen Regionen Ostdeutschlands weitgehend vernichtet und die Wahlkampfstrategie der Union gleich mit hinwegschwemmt.
Denn, so Dieter Roth und Matthias Jung, Mitarbeiter der „Forschungsgruppe Wahlen“, in einer Analyse der Bundestagswahl 2002: „Ohne Zweifel hat die Exekutive durch entschiedenes Handeln in einer solchen Situation die größeren Chancen, Betroffene und weniger Betroffene zu überzeugen und für sich zu gewinnen.“ Und die Schröder-Regierung weiß diese Chancen zu nutzen.
Auch ihre Entscheidung gegen die Beteiligung Deutschlands an einem möglichen Krieg gegen den Irak bringt der Regierung bei der großen Mehrheit der Deutschen, die diesen Krieg ablehnt, deutliche Pluspunkte. Die Union hingegen findet in dieser Frage nicht zu einer eigenen, klar erkennbaren Linie.
Letztlich sind es also wohl die aktuellen Themen Flut und Frieden, die der rot-grünen Koalition ihren knappen Wahlsieg bescheren. 38,5 Prozent der Wählerstimmen erhalten die Sozialdemokraten, genau so viel wie die CDU/CSU. Die SPD wird dennoch stärkste Fraktion, weil sie drei Überhangmandate mehr gewinnt als die Union. Bündnis 90/Die Grünen kommen auf 8,6 Prozent, die FDP auf 7,4 Prozent. Die PDS scheitert dieses Mal an der Fünf-Prozent-Hürde, kann aber zwei Direktmandate gewinnen.
Am 22. Oktober 2002 wird Gerhard Schröder im Bundestag mit 305 von insgesamt 599 abgegebenen Stimmen zum Bundeskanzler wiedergewählt. Doch der Neuauflage der rot-grünen Koalition stehen schwere Zeiten bevor: Nicht nur hat sie im Bundestag eine äußerst knappe Kanzlermehrheit von vier Stimmen. Im Bundesrat steht ihr zudem eine schwarz-gelbe Mehrheit gegenüber. Nun muss sie zeigen, ob sie ihre zweite Chance dennoch zu nutzen weiß.