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"Die Wähler entscheiden sich immer kurzfristiger"

Prof. Dr. Frank Brettschneider
© dpa - Report
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Die Zahl der Umfragen wächst kontinuierlich. Dennoch sind Prognosen für den Wahlausgang unsicherer geworden. Ein Gespräch mit dem Kommunikationswissenschaftler Dr. Frank Brettschneider, Professor an der Universität Hohenheim, über unberechenbare Wähler, die Macht der Demoskopen und die Frage, was Politiker mit Bären und Chamäleons zu tun haben.

Man könnte meinen, die Wähler und ihr Wahlverhalten seien heute besser erforscht als früher - doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Bei der Bundestagswahl 2005 hatten sich alle Demoskopen vertan. Wie passt das zusammen?

Es stimmt, die Wahlforschung weiß viel über die Wähler, aber diese entscheiden sich immer kurzfristiger. Etwa 40 Prozent beschäftigen sich erst in den letzten zwei Wochen mit der Wahl und entscheiden dann, für welche Partei sie stimmen - oft auch erst am Wahltag. Es ist so viel schwerer geworden, Voraussagen zum Wahlergebnis zu treffen.

Warum sind die Wähler so unberechenbar geworden?

Weil die Gruppen in der Bevölkerung, die stabil wählen, immer kleiner werden. Damit meine ich sozial strukturierte Gruppen wie etwa die Katholiken, die regelmäßig zur Kirche gehen und aus ländlichen Regionen stammen: Bei diesen Menschen konnte man sicher sein, dass sie CDU oder CSU wählen. Oder die Arbeiter, die gewerkschaftlich organisiert sind – bei ihnen konnte man davon ausgehen, dass sie für die SPD stimmen. Diese traditionellen Parteibindungen lassen aber nach, und auch die Gruppen selbst werden kleiner.

Wie wirkt sich das auf die Wahlen aus?

Die kurzfristigen Einflüsse werden wichtiger. Selbst das, was am Samstag vor der Wahl passiert, kann noch wahlentscheidend sein. Ein Thema, das viel diskutiert wird, kann eine Wahl komplett drehen. Denken Sie an diesen tödlichen Angriff auf einen Mann in der Münchner U-Bahn – wenn der zu einer Auseinandersetzung über die innere Sicherheit führt, kann das den Wahlausgang beeinflussen. Für die Prognosen bedeutet das: Je näher sie am Wahltag erfolgen, umso besser. Deshalb ist es auch so wichtig, dass man Umfragen bis zum Wahltag durchführt. Die universitäre Wahlforschung macht das ebenso wie die kommerziellen Institute. Unverständlicherweise haben sich aber ARD und ZDF selbst verpflichtet, die Umfrageergebnisse in der letzten Woche vor der Wahl nicht mehr zu veröffentlichen. Das halte ich für kontraproduktiv.

Wieso?

Wenn die Prognosen für den Wahlausgang in den letzten Tagen vor der Wahl sicherer werden, man aber darüber nicht mehr berichtet, lässt man die Wähler mit Daten allein, die eine Woche alt sind. Das führt zu einer falschen Einschätzung der öffentlichen Meinung.


Müssten nicht die Demoskopen ihre Instrumente verfeinern, um auf das veränderte Wählerverhalten zu reagieren?

Absolut. Das Schärfen der Instrumente ist zwingend erforderlich. Allerdings wird das längst gemacht – eigentlich schon seit den 1960er Jahren. Man überarbeitete damals Fragebögen, präzisierte die Fragen. Heute fragt man ja nicht mehr nur: ‚Welche Partei würden Sie wählen?’, wie man es vor 30 Jahren machte, sondern versucht, indirekt auf die Präferenzen der Wähler zu schließen - durch Kompetenz- oder Koalitionsfragen etwa. Es geht darum, einzuschätzen, wie sich eine Person bei der Wahl entscheiden wird, auch wenn diese es selbst noch gar nicht sagen kann.

Aber reichen Umfragen aus?

Nein. Repräsentative Umfragen sind zwar ernorm nützlich, um Aufschluss über die aktuellen Einstellungen in der Bevölkerung zu bekommen. Um aber einzuschätzen, welche Bedeutung diese haben, braucht man weitere Instrumente...

Wie zum Beispiel?

...so genannte Fokus-Gruppen. Das sind Gruppen von acht bis zehn Personen, die zusammenkommen, um über politische Themen zu diskutieren. Dabei wollen Wahlforscher zum Beispiel wissen, was die Gruppe mit einzelnen Politikern, wie etwa Frank-Walter Steinmeier, verbindet. Psychologische Elemente spielen eine wichtige Rolle: Man fragt beispielsweise "Wenn Steinmeier ein Tier wäre, wäre er eher ein Bär oder ein Chamäleon?" Aufgrund der Aussagen können Psychologen dann Rückschlüsse ziehen auf die Wahrnehmung von Personen. Ein anderes Instrument ist das Web-Monitoring. Dabei beobachtet man, wie über politische Themen in Internet-Foren und -Netzwerken diskutiert wird. Dies hilft einzuschätzen, in welche Richtung sich die öffentliche Wahrnehmung bewegen wird.

Politiker behaupten oft, Meinungsumfragen nicht viel Bedeutung beizumessen. Dennoch beauftragen sie selbst Wahlforschungsinstitute mit Befragungen. Wem nutzen die eigentlich mehr? Den Wählern, den Politikern - oder den Journalisten?

Alle profitieren. Die Parteien nutzen die Wahlforschung ganz intensiv, um ihre Wahlkampfstrategie zu verfeinern: Ob Plakate oder Slogans - alles wird getestet. Die Journalisten profitieren, weil sie über eine zusätzliche Informationsquelle verfügen, wenn es um die öffentliche Meinung geht. Aber auch den Wählern nutzen Umfragen. Insbesondere den "taktischen Wählern".

Manche fürchten eine Einflussnahme durch die Demoskopie und fordern, wie etwa in Frankreich üblich, zwei Wochen vor Wahlen keine Umfrageergebnisse mehr zu veröffentlichen. Ein sinnvoller Vorschlag?

Nein, überhaupt nicht. Die Vorstellung, es würde auf Seiten der Institute manipuliert, kann leicht widerlegt werden, indem man die Ergebnisse vergleicht. Wenn ein Institut abweicht, verweisen die anderen sofort auf ihre Ergebnisse. Das ist ein gutes Korrektiv. Manipulation bei der Erhebung der Daten sehe ich deshalb nicht - eher bei ihrer Interpretation. Das passiert mehr Journalisten als Demoskopen. Aber noch ein Argument gegen ein Veröffentlichungsverbot: Wenn Umfrageergebnisse, die vorliegen, nicht publiziert werden dürfen, dann führt das zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die einen haben Zugang zu den Daten - Journalisten und Politiker -, die anderen werden für zu doof gehalten, um mit Umfragen sinnvoll umzugehen - die Wähler. Das ist inakzeptabel. Menschen müssen nicht vor Daten geschützt werden. Entscheidend ist doch die Frage: Sind die Daten korrekt und neutral erhoben worden?

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Nähe mancher kommerzieller Wahlforschungsinstitute zu einzelnen Parteien?

Es wäre erst dann ein Problem, wenn nicht nachprüfbar wäre, wie die Ergebnisse zustande gekommen sind. Viele Institute stellen aber freiwillig ihre Daten für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung. Fielen bei der Überprüfung Unregelmäßigkeiten auf, kann eingeschritten werden. Die universitäre Wahlforschung dient so gesehen der Qualitätssicherung.

Unter dem Schlagwort "Demoskopiedemokratie" wurde schon oft moniert, das ständige Schielen der Politiker auf Umfrageergebnisse habe die Auseinandersetzung über Sachthemen verdrängt. Ist diese Kritik berechtigt?

Nicht unbedingt. Es ist eine Frage des Umgangs mit Umfragewerten. Konrad Adenauer etwa hat schon sehr früh als Kanzler von solchen Daten Gebrauch gemacht – aber nicht, um seine Position zu Sachfragen zu verändern. Er wollte wissen, wo es noch Erklärungs- oder Überzeugungsbedarf gibt. So genutzt kann die Demoskopie den Politikern helfen, ihren Auftrag in der Demokratie zu erfüllen: Sie sollen ja einerseits ‚führen’ und für ihre Positionen werben, andererseits aber auch ‚folgen’ und als Repräsentanten des Volkes dessen Erwartungen aufnehmen.

Zur Person

Prof. Dr. Frank Brettschneider studierte Politikwissenschaft, Publizistik und Jura in Mainz und promovierte 1995 an der Universität Stuttgart zum Thema "Öffentliche Meinung und Politik". 2002 folgte die Habilitation zum Thema "Spitzenkandidaten und Wahlerfolg". Bis 2006 war er Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Augsburg. Seitdem ist er Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim. Brettschneider erhielt verschiedene Auszeichnungen, darunter 1996 den Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages.




Ausdruck aus dem Internet-Angebot des Deutschen Bundestages

www.bundestag.de/btg_wahl/wen/brettschneider/index.jsp

Stand: 21.09.2009