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Die Tücken des Überhangmandats

Wie bestimmte Wahlergebnisse die Sitzverteilung verändern können

Wahlkämpfer Franz Müntefering
© dpa
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Die Galerie prominenter Unterstützer ist beachtlich: Kanzlerkandidat Dr. Frank-Walter Steinmeier, der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering, der Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Dr. Peter Struck, die Vorstandsmitglieder Dr. Wolfgang Thierse und Andrea Nahles, der Altvordere Dr. Erhard Eppler – sie alle helfen im Wahlkreis Freiburg dem SPD-Abgeordneten Dr. Gernot Erler, am 27. September sein Direktmandat zu verteidigen.

Nötig hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt den Sieg bei den Erststimmen nicht unbedingt, denn er würde über die Landesliste seiner Partei auf jeden Fall in den Bundestag einziehen. Aber ein Direktmandat in Freiburg ist für die SPD enorm wichtig, würde so doch ein zusätzlicher Sitz für die CDU im neuen Parlament verhindert: Käme Erler vor Ort nicht durch, würde die Union in Baden-Württemberg ein Überhangmandat mehr erringen.

Kein Wahlkampfthema

Erlers Chancen stehen nicht schlecht, vor vier Jahren hatte er über elf Prozent Vorsprung vor der Konkurrenz. Angesichts der bundesweit schlechten Umfragewerte für die SPD ist nicht auszuschließen, dass die Partei im Südwesten zwei, möglicherweise drei ihrer vier Direktmandate einbüßt und dass die CDU im Gegenzug statt seinerzeit drei dieses Mal fünf oder sechs Überhangmandate erzielt.

Im Wahlkampf spielen die Überhangmandate kaum eine Rolle. Da richten sich die Blicke auf die Sonntagsfragen der Demoskopen, die den Zweitstimmenanteil der Parteien schätzen. Doch für die endgültige Sitzverteilung im Bundestag sind die von einer Partei „zu viel“ erkämpften Mandate von enormem Belang. 2005 entfielen auf die SPD neun Überhangmandate (vier in Sachsen-Anhalt, drei in Brandenburg, jeweils eines in Hamburg und im Saarland), auf die CDU deren sieben (vier in Sachsen, drei in Baden-Württemberg).

Sitzverteilung nach bisherigem Recht

Ohne diese Zusatzsitze hätten im Herbst 2005 nicht 226, sondern 219 Unionsabgeordnete im Reichstag Platz genommen, bei der SPD wären es nicht 222, sondern 213 gewesen. Im Juli 2008 erklärte das Verfassungsgericht die bisherige Regelung zu Überhangmandaten für grundgesetzwidrig, weil dies zu einer Verfälschung des Wählerwillens führen könne. Allerdings ließ Karlsruhe dem Parlament für eine Neufassung des Wahlgesetzes Zeit bis 2011, weshalb der Urnengang am 27. September noch nach alten Regularien abläuft.

Die Kritik der Verfassungsrichter kommt nicht von ungefähr. Natürlich muss als offen gelten, ob Überhangmandate den Ausgang der jetzigen Wahl tatsächlich nennenswert beeinflussen werden. Doch nach demoskopischen Erkenntnissen von Infratest-Dimap, so Geschäftsführer Richard Hilmer, könnten Union und FDP zusammen bei den Zweitstimmen sogar um bis zu drei Prozentpunkte hinter SPD, Linkspartei und Grünen zurückbleiben und trotzdem mehr Sitze als diese drei Parteien verbuchen: Nach einem komplizierten Umrechnungsmodell würde auf der Basis von Umfragewerten wenige Wochen vor dem Urnengang die CDU rund 20 Überhangmandate erringen. „Und es könnten sogar noch mehr werden“, meint Hilmer.

Wie es zu Überhangmandaten kommt

Eine Faustregel lautet so: Je größer der Abstand zwischen der stärksten und der zweiplatzierten Partei ist, desto mehr Überhangmandate fallen für den Sieger an. Vergeben werden die Zusatzsitze, welche die Normalzahl von 598 Abgeordneten erhöhen, auf Länderebene: Gewinnt eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise direkt als ihr nach dem prozentualen Zweitstimmenanteil zustehen, so werden ihr diese Überhangmandate zugesprochen.

Legt man die Werte der Demoskopen in den Wochen vor dem Urnengang zugrunde, dann könnte die Union in etwa bei ihrem Zweitstimmenanteil von 2004 bleiben, während die SPD über zehn Prozentpunkte einbüßen könnte. Union wie SPD fahren zwar stets mehr Erst- als Zweitstimmen ein, doch ist nach den bisherigen Erfahrungen die Differenz zwischen beiden Parteien bei Erst- und Zweitstimmen jeweils ähnlich groß.

Blick in die Länder

Vor diesem Hintergrund könnten sich in einzelnen Ländern bemerkenswerte Entwicklungen ergeben. In Sachsen-Anhalt errang die SPD 2004 alle Direktmandate, was zu vier Überhangsitzen führte: In fünf Wahlkreisen aber hatte die Partei nur einen Vorsprung zwischen zwei und sechs Prozent, in zwei weiteren Wahlkreisen von acht bis neun Prozent vor der CDU. Nur Magdeburg dürfte mit einem seinerzeitigen Plus von 15 Prozent gegenüber der Linkspartei sicher sein - es ist durchaus drin, dass dieses Mal anstatt der SPD die CDU Überhangmandate verbucht.

Von den drei sächsischen SPD-Direktsitzen sind zwei wegen eines geringen Stimmenvorsprungs gefährdet, sodass die CDU vermutlich sechs statt bislang vier Überhangmandate mit nach Berlin nehmen kann. Auch in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen könnte dieser oder jene Zusatzsitz für die CDU herausspringen. Im Saarland fielen 2005 alle vier Wahlkreise an die SPD, die Folge war ein Überhangmandat. Damit könnte es jetzt vorbei sein: In drei dieser Bezirke lagen die SPD-Bewerber vor vier Jahren nur zwischen 0,6 und 4,5 Prozent vor der CDU.

In Brandenburg und Hamburg, wo 2005 ebenfalls alle SPD-Direktbewerber durchkamen, hat die Partei vielleicht Glück im Unglück. In Brandenburg könnten möglicherweise drei Wahlkreise entweder an die Linkspartei oder an die CDU gehen, in Hamburg-Nord lag der SPD-Sieger nur knapp vier Prozent vor dem CDU-Konkurrenten. In beiden Ländern erringt die SPD aber eventuell trotzdem erneut Überhangmandate: nämlich dann, wenn die Partei bei den Zweitstimmen tatsächlich über zehn Prozent verlieren sollte und sie deshalb gleichwohl noch mehr Direktmandate durchbringt als ihr nach den Zweitstimmenprozenten zustehen. Überhangmandate sind eine höchst komplizierte Angelegenheit.

Drei Abgeordnete weniger als 2005

Die Zahl der Bundestagsabgeordneten kann sich im Übrigen im Laufe der Zeit verringern: Scheidet ein Parlamentarier aus, der von einem Überhangmandat profitiert hat, so entfällt dieses Mandat, niemand rückt über eine Landesliste nach. Im Herbst 2005 hatte der Bundestag 614 Mitglieder, jetzt sind es noch 611. Der baden-württembergische CDU-Abgeordnete Matthias Wissmann verließ die Volksvertretung, Johann-Henrich Krummacher (CDU) aus Stuttgart verstarb.

Nach der Europawahl im Juni ging der Sachse Peter Jahr (CDU) nach Straßburg. Da der sächsische CDU-Abgeordnete Henry Nitzsche die Unionsfraktion Ende 2006 verließ und seither fraktionslos ist, wären CDU und CSU mit 222 Volksvertretern zuletzt beinahe nur noch genau so stark gewesen wie die SPD - wenn nicht deren Abgeordneter Jörg Tauss zur Piratenpartei gewechselt wäre, sodass die SPD-Fraktion momentan noch 221 Köpfe zählt.




Ausdruck aus dem Internet-Angebot des Deutschen Bundestages

www.bundestag.de/btg_wahl/wen/ueberhangmandat/index.jsp

Stand: 10.09.2009