Auf der Ebene der Europäischen Union wird die Vermittlung von Medienkompetenz als ein strategischer Gesichtspunkt und Standortfaktor betrachtet. Medienkompetenz sei in der digitalen Welt Voraussetzung für eine wettbewerbsfähige Content-Industrie und für eine integrative Wissensgesellschaft, heißt es in einer Ende Original-Link -->Empfehlung der Kommission von August 2009. Demnach müssen die Bürgerinnen und Bürger analytische Fähigkeiten entwickeln, um Medien und Medieninhalte zu verstehen, kritisch zu bewerten sowie selbst in vielfältigen Kontexten zu kommunizieren. Laut Kommission ist ein besseres intellektuelles und emotionales Verständnis der digitalen Medien gefordert, das zugleich über die Chancen und Herausforderungen medial übermittelter Informationen aufklärt und die aktive Teilhabe in Informations- und Kommunikationsnetzen ermöglicht.
Auch in Deutschland wird die Problematik zunehmend erkannt. Dennoch fehlt es weiterhin an einem umfassenden Konzept zur Förderung von Medienkompetenz. Bund und Länder befördern fröhlich Einzel- und Pilotprojekte. Letztere teils über die Landesmedienanstalten, deren Budget sich nicht aus den Länderhaushalten, sondern aus Anteilen an der Rundfunkgebühr speist. Eine systematische Vermittlung von Medienkompetenz in Kindergärten, Horten und Schulen findet nicht statt. Von der von der EU-Kommission empfohlenen Aufnahme der Medienerziehung in die schulischen Pflichtlehrpläne ist Deutschland weit entfernt. Denn das kostete Geld, erheblich mehr Geld als bislang zur Verfügung steht. Auch deshalb ist es kein Wunder, dass sich Teile der Politik, statt Aufklärung zu befördern, immer wieder unter das Regiment des Jugendmedienschutzes stellen.
Zu welchen Widersprüchen das führt, mag das Beispiel der Games-Industrie verdeutlichen. Sie hat sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt. Die Computer- und Videospielbranche bildet das am stärksten wachsende Segment der Medienwirtschaft in Deutschland. Sie macht heute mehr Umsatz als die Filmindustrie an den Kinokassen. Diese Umsatzzahlen allerdings erreicht sie in erheblichem Maße durch Entwicklung und Verkauf gewalthaltiger Spiele. Man muss solche Spiele nicht mögen, um zu begreifen, dass es sich bei dieser Art von Unterhaltung durch Spiel längst um eine massenmediale Erscheinung der Populär- und Alltagskultur handelt und Forderungen nach dem Verbot sogenannter „Killerspiele“ in die Irre führen. Im Falle von Online-Spielen, dem momentanen Expansionspfad der Games-Industrie, würde die Durchsetzung solcher Verbote zudem unweigerlich zu Internetsperren führen – mit den bekannten Kollateralschäden und der Folge, dass die universelle Netzinfrastruktur zu einer Kontrollinfrastruktur umgebaut würde.
Tatsächlich ist die Liste potentiell zu löschender Inhalte aus Sicht eines repressiven Jugendmedienschutzes lang: Neben den erwähnten Online-Games kommen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – Hass- und Gewaltverherrlichung, Pornographie sowie Gangsta- und Porno-Rap, Nazipropaganda und Holocaust-Leugnung, religiöser Extremismus und Fanatismus, entwürdigende Darstellungen und Ende Original-Link -->Cyber-Mobbing in Frage. All das ist im Netz und Web2.0 auffindbar, wenngleich nicht in einem Ausmaße, in dem es die oft anzutreffende mediale Skandalisierung zu beschreiben sucht. Jugendmedienschutz als Verbotspädagogik neigt dazu, die negativen Aspekte in der Mediennutzung Heranwachsender zu überzeichnen und das Internet als einen Tummelplatz der Unmoral, einem Hort der Perversion und des beständigen Tabubruchs darzustellen. Der vermeintlich ethische Grundkonsens einer Gesellschaft, auf den sich ein repressiver Jugendmedienschutz zu berufen trachtet, ist eben auch immer interessengeleitete Auslegung.
Die von den Ministerpräsidenten der Länder im Juni beschlossene Novellierung des Jugendmedienschutzstaatsvertrags ist Ausdruck dieses grundlegenden Missverhältnisses. Jugendmedienschutz über Sendezeiten – analog zum Fernsehen – ist für das Internet absurd, selbst dann, wenn dadurch eine bereits bestehende Regelung fortgeführt wird. Zudem lassen alternativ vorgesehene Alterskennzeichnungspflichten für Inhalte Netzsperren durch die Hintertür erwarten. Insbesondere Angebote aus Blogs und Sozialen Netzwerken, die sich den irrsinnigen Kontrollverfahren aus der Welt des nationalen Rundfunks wissent- oder unwissentlich nicht unterziehen, verschwänden künftig hinter Filterprogrammen. Nahezu das gesamte Web2.0 wäre potentiell jugendgefährdend. Eine Sperrinfrastruktur entstände mittelbar und nutzerautonom durch im Umgang mit digitalen Medien überforderte Eltern. Ausschluss und Zensur, statt Partizipation und Kommunikation wären die nicht (?) beabsichtigten Folgen.
Jugendmedienschutz als Verbotspädagogik ist das genaue Gegenteil zu Verstehen und kritischem Bewerten von Medieninhalten sowie einer aktiven Teilhabe in Informations- und Kommunikationsnetzen. Das Internetzeitalter hingegen erfordert konstruktive Lösungen im Umgang mit digitalen Medien. Kinder und Jugendliche müssen lernen, mit virtuellen Welten umzugehen und Risiken abzuschätzen. Die Bildung eines kritischen Verstandes und die Fähigkeit, Realität und Vision zu unterscheiden, ist unabdingbare Voraussetzung für eine moderne Medienbildung. Die Medienpädagogik hält dazu brauchbare Konzepte bereit. Doch fehlt es in Schulen und Bildungseinrichtungen an Lehrmaterialien, ermangelt es Lehrerinnen und Lehrern an Sach- und Vermittlungskompetenz, sind die Missstände in der Lehreraus- und -fortbildung weiterhin groß und enthalten Rahmenlehrpläne bloß pauschale, den Bedingungen von Web2.0 und digitaler Kommunikation nicht standhaltende Vorgaben.
Es ist kein Zufall, dass professionelle Medienpädagogen die schulische Medienkompetenzförderung als desolat beschreiben und lediglich im Land Thüringen ein eigenes Schulfach Medienkunde besteht. Förderung von Medienkompetenz ist mangels Bildungsinvestitionen zu einer Leerformel verkommen. Dennoch wird eine digitale Gesellschaft nicht umhin können, die Förderung von Medienkompetenz als Bildungsaufgabe zu begreifen. Kinder und Jugendliche können lernen, Verantwortung zu übernehmen, indem sie digitale Medien kritisch reflektieren und selbstbestimmt handelnd in ihr Lebensumfeld integrieren. Verbote helfen dazu nicht.
Zur Umsetzung eines umfassenderen Konzepts von Medienkompetenz ist zuallererst die Infrastruktur und das Know-how in allen Schulen- und Bildungseinrichtungen bereitzustellen, Medienkompetenzförderung verpflichtend zu verankern, mit der Förderung bereits in Horten und Kindertagesstätten zu beginnen, Familien- und Elternbildung sowie den außerschulischen Bereich einzubeziehen sowie deren Vermittlung in die Ausbildungsinhalte von Erziehern, Lehrern und Sozialpädagogen aufzunehmen. Auf diese Weise wäre Medienkompetenz gewissermaßen vorausschauender Jugendmedienschutz und machte den prohibitiven Jugendmedienschutz endgültig überflüssig. Das allerdings bedeutete eine gesellschaftliche Bildungsaufgabe, nicht eine aus Gründen von Markt und Wettbewerb.